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Seelenfeuer

Seelenfeuer

Titel: Seelenfeuer
Autoren: Cornelia Haller
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Augen der Hebamme? Luzia spürte, dass Anselmas Schmerz erträglicher wurde, und schöpfte neuen Mut.
    Jetzt durfte sie keine weitere Zeit mehr verlieren. Ihre kundigen Finger tasteten behutsam und fest zugleich. Stück für Stück wanderten sie über Anselmas Bauch. Wo die Wehmutter die kleinen Füße des Kindes spüren sollte, befand sich der lange, fast ausgestreckte Rücken. Während sich der Kopf auf der rechten Bauchseite der werdenden Mutter abzeichnete, befanden sich die Füße links. Das Kind lag falsch! Aus dieser Lage konnte es niemals geboren werden. Solange das Kleine quer im Mutterleib lag, waren die Wehen wirkungslos. Einzig eine Drehung konnte bewirken, dass sie ihren Zweck erfüllten und dem Kind ans Licht der Welt halfen. So brachten sie Anselma nur sinnlose Qualen. Wenn jetzt nichts geschah, würden die Wehen bald schwächer werden und dann würden sie wirklich Pater Wendel in brauchen. Luzia spürte, wie ihr der Schweiß auf die Stirn trat.
    »Große Mutter, steh uns bei! Ich bitte dich, hilf mir und führe meine Hände«, betete Luzia stumm.
    Sie erschrak, als sie die tanzenden Schatten an der Wand entdeckte. Schwarz und unheimlich krochen sie immer näher. Luzia meinte, sie kichern zu hören.
    Entschlossen rief sie nach der alten Wachterin und reichte
ihr ein kleines, prall gefülltes Flachsbeutelchen. »Das ist Beifußkraut. Bereitet daraus einen sehr starken Aufguss, rasch! Wenn Ihr etwas weißen Wein im Haus habt, wäre das noch besser als Wasser.«
     
    Das schwere, erdige Aroma des Beifußes breitete sich schnell in der niedrigen Kammer aus. Flink warf die Hebamme ein paar Samen des Bilsenkrauts in den dampfenden Becher und gab ihn Anselma zu trinken. Bilsenkraut nahm den Schmerz und entführte den Geist in selige Welten. Zu viel davon brachte allerdings den Tod! Als sie sicher sein konnte, dass die leicht berauschende Wirkung Selma beruhigt hatte und ihr weher Leib betäubt war, fettete Luzia ihre Hände mit Schweineschmalz. Vorsichtig, ganz behutsam glitten ihre Hände in Anselmas Leib. Die Wehen hatten dafür gesorgt, dass sich die Geburtswege unter Luzias Händen weich und weit anfühlten. Dank des Bilsenkrauts verspürte Anselma nur ein leichtes Ziehen im Leib. Obwohl sie ahnte, was die Hebamme tat, dass ihre Hände sich an einem Ort befanden, den nicht einmal sie selbst berührte, lag Anselma völlig still.
    Luzia wollte versuchen, das Kind im Mutterleib zu drehen. Sie fühlte den kleinen, festen Kopf, einen kleinen Arm und ein angezogenes Beinchen. Schweiß floss ihr in einem dünnen Rinnsal von der Stirn, den Hals entlang und sammelte sich zwischen ihren Brüsten. Ein paar Strähnen ihres roten Haares klebten feucht an ihren Schläfen. Der kupferartige Geruch von Blut stieg ihr in die Nase. Luzia griff nach dem Köpfchen, um es nach unten zu drehen. Gleichzeitig versuchte sie den winzigen Körper dazu zu bringen, nach oben zu gleiten. Doch immer wenn sie glaubte, jetzt könnte es ihr gelingen,
drehte sich das Kind zur Seite. Ähnlich einem kleinen Fisch entglitt ihr das Ungeborene wieder und wieder. Wenn sich das kleine, aalglatte Körperchen einen Zentimeter bewegen ließ, rutschte es im nächsten Augenblick wieder in seine ursprüngliche Lage zurück. Luzia wusste, dass allmählich die Zeit knapp wurde. Anselma wurde zunehmend unruhig, denn die Wirkung des Bilsenkrautes ließ schon wieder nach. Allzu oft durften ihre Versuche jetzt nicht mehr misslingen. Aus den Augenwinkeln sah Luzia, wie die finsteren Schatten über die Wände leckten und sie verhöhnten. »Bist eine dumme Gans«, geiferten sie im Chor.
    Als sie erneut den kleinen Kopf nach unten drehen wollte, spürte sie, dass die Nabelschnur um den Hals des Kindes lag. Das Kind würde sterben, wenn es nicht bereits tot war. Welch eine Ironie, wenn die pulsierende Lebensader gleichzeitig den Tod brachte. Ihr schwand der Mut.
    »Großer Gott, hilf uns! Du kannst uns jetzt nicht im Stich lassen.« In einem letzten Versuch gelang es ihr, einen Finger zwischen den winzigen Hals des Ungeborenen und die todbringende Schlinge zu bringen.
    Luzias Mund fühlte sich an, als habe sie Sand gegessen. Als sie auf ihre Unterlippe biss, schmeckte sie warmes Blut auf ihrer Zunge. Es verursachte ihr fast Übelkeit. Doch nun spürte sie auch das Pulsieren der Nabelschnur. Das Kind lebte!
    Jetzt zählte jeder Augenblick. Jeder hoffnungsvolle Atemzug. Jeder wertvolle Herzschlag. Hinter ihr leierten die alte Wachterin, Irmtraud und Sieglinde ihre
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