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Seejungfrauen kuesst man nicht

Seejungfrauen kuesst man nicht

Titel: Seejungfrauen kuesst man nicht
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verkommen.« Es folgte eine Pause, dann fügte er leiser hinzu: »Aber ich hätte es tun können«, und dieses kleine Aufblitzen männlicher Eitelkeit gefiel mir fast so gut wie das Dementi selbst.
    »Ich habe nur gefragt, weil du damals, als du mir erzählt hast, was passiert ist, gesagt hast, du hättest gegen die Pubtür geschlagen und gerufen: ›Meine Freundin ist im See.‹«
    »Wirklich? Gott, es muss ein Fluch sein, dein Gedächtnis zu haben«, sagte Rad und sah mich mit einer Mischung aus Verblüffung und Mitleid an. »Ich habe wahrscheinlich nur versucht, Aufmerksamkeit zu erregen. Es war nicht gerade der richtige Augenblick für komplizierte Erklärungen.«
    »Tut mir Leid.«
    »Schon gut.«
    »Weißt du noch, was ich gesagt habe, als du es mir erzählt hast?«
    »Abigail, ich fürchte, ich weiß nicht mehr viel von diesem Gespräch. Es ist nichts Persönliches - es ist einfach aus meinem Gedächtnis gelöscht.«
    »Gut.«
    Er küsste mich auf die Stirn. »Hast du je ihr Grab besucht?«
    »Nur zwei oder drei Mal. Ich hatte immer Angst, Val über den Weg zu laufen. Ich bin nämlich ein Feigling. Aber es geht jemand hin, denn jedes Mal, wenn ich da war, standen frische Blumen darauf.«
    »Val ist nicht nachtragend. Ich habe sie bei der gerichtlichen Untersuchung wieder gesehen, als ich aussagen musste. Danach hat sie zu mir gesagt: ›Lass dir dadurch nicht dein Leben zerstören.‹ Das hat mir mehr geholfen als alle Beratungen und die Therapie.«
    »Du hast auch gesagt, Birdie hätte Half Moon Street schon gekannt.«
    »Ja, sie war schon mit Val dort gewesen.«
    »Mein Vater und Val haben sich dort immer getroffen. Als ich klein war, hat er mich einmal mit dorthin mitgenommen, und er hat mir erzählt, er hätte schöne Erinnerungen an den Ort, aber wir waren nie mit meiner Mutter da.«
    »Vielleicht wurde Birdie dort, nun ja, empfangen«, sagte Rad, der laut dachte, hielt aber schnell den Mund, als ihm klar wurde, dass er ein Bild von meinem Vater zeichnete, über das ich lieber nicht nachdachte. »Ach, wahrscheinlich nicht«, sagte er und legte den Arm um mich. »Kannst du so schlafen?«, fragte er, als ich mich in seine Armbeuge schmiegte.
    Es kam mir vor, als wäre es nur Sekunden später gewesen, als Rad mich schüttelte. Ich hatte intensiv geträumt, ausgerechnet von der Last Night of the Proms , und es dauerte eine Weile, bis ich das Gefühl abschütteln konnte, dass ich mich immer noch mit den Zuschauern in der Royal Albert Hall zur Musik wiegte.
    »Riechst du was?«
    Ich schnupperte. »Rauch.«
    Er kletterte über mich zur Tür und öffnete sie. In dem Bruchteil einer Sekunde, bevor er sie wieder zuschlug, hörte ich das leise Prasseln von Feuer.
    »O Scheiße, das Boot brennt«, sagte er, sprang zum Fußende und schob das Fenster auf. »Ich habe vergessen, den Gasofen auszustellen, und dieser blöde Wäscheständer muss drauf gefallen sein.« Ich hörte kaum zu: Mir dämmerte gerade, dass die Fenster zum Fluss hinausgingen, nicht zum Ufer. Betäubt sah ich zu, wie er Boxershorts und ein T-Shirt anzog. »Komm, wir müssen uns beeilen. Der Gasbehälter kann explodieren. Es sind nur knapp zwei Meter bis ins Wasser. Ich springe zuerst und fange dich auf.«
    Ich schüttelte den Kopf. Mein restlicher Körper war vor Angst gelähmt. »Ich kann nicht ins Wasser springen«, sagte ich. »Ich kann‘s nicht. Können wir nicht versuchen, so rauszukommen?«
    »Du machst wohl Witze. Da draußen ist eine Hitze wie im Backofen.« Ich wollte die Türklinke anfassen, doch er packte mich am Handgelenk. »Fass die Tür nicht an!«, schrie er, und ich wich zurück aufs Bett. »Hör zu, es sind nur ein paar Meter bis zum Ufer. Ich verspreche dir, ich lasse dich nicht ertrinken.« Wir wechselten einen Blick, der mehr zum Ausdruck brachte, als wir je über jene schreckliche Nacht in Half Moon Street hätten sagen können. »Ich will dich nicht allein hier drin lassen«, sagte er dann. »Aber ich muss zuerst springen, damit ich dich auffangen kann. Versprichst du mir, dass du nachkommst?«
    Ich nickte, und er zog sich zum Fenster hoch, das nur etwa fünfzig Zentimeter hoch und breit war. Ich hörte das Platschen, dann einen Augenblick Stille und dann Rads eindringliche Stimme vor dem Fenster: »Abigail, wo bist du?« Ich zog den Schlüpfer und das Hemd an, das ich vorher getragen hatte; meine Finger fummelten an den Knöpfen herum. Selbst in einer solchen Extremsituation konnte ich den Gedanken nicht ertragen, nackt aus
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