Sechs Österreicher unter den ersten fünf: Roman einer Entpiefkenisierung (German Edition)
und das ist mein Alltag. Ich reib mich an Borken, schlag mich tot, aber so bin ich …
»Du Würstel aus Nordrhein-Westbochum«, kam dann noch. Anschließend tropfte eine Zeitlang Hollunderschnaps aus seinem Mund. Franz fiel ins Gras neben der Linde und griff schwächelnd mit beiden Händen in Hundescheiße. Dann begann er zu weinen. Ich half ihm auf, schimpfend ließ er sich stützen.
»Du deitsche Schaaßtrommel, leckmern Oasch, du gschissenes …« Er stockte.
»Weh«, schlug ich vor. »Du Weh. Wie wär’s damit?«
Franz blieb stehen und küsste mich sabbernd ins Haar. Seine Brille saß schief auf seinen glasigen Augen, aus seinem Mantel guckte eine Datum -Ausgabe, für die er gerade gratis ein sechsseitiges Interview mit einem Maler geführt hatte. Das Interview hatte eigentlich nicht stattgefunden, weil der Maler nicht gekommen war. Er war in einem Stadtheurigen picken geblieben, seit 36 Stunden trank er dort schweigend mit zwei Journalisten. Aber er hatte eine SMS geschrieben: »Komme nicht. Führ Interview mit mir allein, du Sack. Schreib, was du willst, bin schon gespannt, was ich sag. Huren!«
Franz hatte zwei Söhne. Er wünschte sich, dass sie Fußballer wurden. Der Größere der beiden war acht. Franz hatte ihn beim FC Mariahilf angemeldet, der keinen eigenen Fußballplatz hat. Die Kinder mussten zum Training nach Simmering fahren, eine halbe Stunde mit der Straßenbahn.
»Fußballvereine ohne eigenen Platz sind vielleicht ein Grund für das schlechte Abschneiden österreichischer Mannschaften«, meinte Franz. Dem konnte ich nur schwer widersprechen.
Seinem Sohn fehlte aber offensichtlich auch der Biss, Fußballer werden zu wollen. Einmal war Franz als Zuschauer bei einem Spiel und beobachtete, wie sein Sohn, seines Zeichens Torwart, mit dem eigenen Netz spielte. Er drehte den Finger im Netz und wickelte sich dabei selber fest.
»Vorsicht! Da kommt ein Angriff!«, rief Franz, aber sein Sohn hatte sich derart verheddert, dass er sich nicht befreien konnte. Selten hatte ein Stürmer einfacher getroffen. Sein Sohn weinte und weigerte sich, weiterhin nach Simmering zum Training zu fahren. Stattdessen beschloss er, Balletttänzer zu werden. Franz war dagegen, aber seine Frau setzte sich durch. Franz wollte einen Stürmer als Sohn, einen Mittelfeldrackerer, vielleicht auch einen körperbetonten Zerstörer oder einen filigranen Dirigenten mit Zug zum Tor. Aber keinen Tänzer.
Franz war verzweifelt. Und seine Verzweiflung sollte noch wachsen. Sein zweiter Sohn, sechs Jahre alt, begleitete den Bruder und die Mutter zur ersten Probe in die Ballettschule. Der Achtjährige war der einzige Bub, die Mädchen trugen Röcke und sein Bruder eine Strumpfhose mit einem kurzen Höschen. Da begann der kleine Bruder zu weinen. »Ist dir das so peinlich, dass dein Bruder tanzt?«, fragte die Mutter.
»Nein, es ist so schön. So wunderschön«, schluchzte der kleine Sohn von Franz, und er wusste, dass er auch die zweite Chance verpasst hatte, ein stolzer Fußballvater zu werden, der sich mit anderen Fußballvätern Schreiduelle am Fußballplatz lieferte.
Die Geschichte hatte Franz mir erzählt, als ich ihn zuvor im »Anzengruber« fragte, ob man mit ihm fürs Spiel rechnen könne.
»Natürlich! Trage ich Baströcke? Und Eierschoner? Hab ich schon mal blutige Füße gehabt aus einem anderen Grund, als dass ich versucht hätte, mit ihnen einen D-Zug anzuhalten? Natürlich spiel ich mit!«, schrie Franz. »Für drei werd ich spielen. Für mich und meine beiden Söhne, die sich in sterbende Schwäne verwandeln!«
Gerade verwandelte sich Franz allerdings in eine Schnapsleiche. »Wer partout keinen Alkohol trinkt, hat auch ein Alkoholproblem«, leierte er, während ihm die Zeitschrift aus der Tasche fiel, in einen frischen, weichen, duftenden Hundehaufen.
»Kennst du das, wo Qualtinger ein Viertel bestellt und der Kellner fragt: rot oder weiß? Und der Qualtinger sagt: Hams schon mal an roten Sliwowitz gsehn? Ich schon. Ich hab schon roten Schnaps getrunken. Am ersten Mai, auf der Jesuitenwiese. Da war ich so im Öl, man hätt ein Schnitzel in mir ausbacken können.«
Ich fragte mich oft, ob er überhaupt noch Blut im Alkohol hatte. Nachdem ich im »Anzengruber« nach vier Vranac und drei Plavac ein Wasser bestellte, sah er mich an, wie man aus dem Schützengraben heraus den Feind ansieht. »Wasser?«, zischte er.
»Ja. Gutes Wiener Hochquellwasser.«
»Meine Nachbarin hat Wasser in den Beinen. Magst sie
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