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Sechs Österreicher unter den ersten fünf: Roman einer Entpiefkenisierung (German Edition)

Sechs Österreicher unter den ersten fünf: Roman einer Entpiefkenisierung (German Edition)

Titel: Sechs Österreicher unter den ersten fünf: Roman einer Entpiefkenisierung (German Edition)
Autoren: Dirk Stermann
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hatte er zu den Krankenschwestern gesagt: »Der erste Schritt zum Tod.«
    »Aber was alles dazwischen liegt …«, versuchten es die Schwestern mit rheinischem Frohmut.
    »Wenn’s hochkommt, Not und Trübsal«, schmetterte mein Vater jeden Versuch ab, Optimismus für eine Option zu halten.
    Mein Duisburger Urgroßvater hatte einmal in der Salzburger Innenstadt einer alten Frau auf die Wölbung ihres Hutes gehauen. Diese Wölbungen hatten ihn immer maßlos gereizt. Das Vakuum ließ ihm keine Ruhe, diese Wölbung musste er einfach hinunterdrücken. Er klopfte der Salzburger Pelzträgerin auf den Kopf und ihr die Kopfbedeckung auf diese Weise flach. »So wird aus dem Luftschiff ein Hut«, sagte er strahlend, während die Österreicherin den Kopf schüttelte und sich leichttat, dem Charme meines Uropas zu widerstehen.
    Diese Geschichte kannte ich, aber das war, von Kottan abgesehen, auch die einzige Situation, in der meine Ruhrpott-Familie jemals mit Österreichern in Kontakt getreten war. Wobei mir jetzt einfällt, dass ich mit vier Jahren einmal im Sommer am Wörthersee war. Ein Bauernhof mit Pool. Mein Bruder war frisch geboren und schrie ununterbrochen, und ein Schwein wurde geschlachtet. Zu dieser Touristenattraktion wurde ich in den Stall geführt und sollte zusehen. Ich lief sofort wieder hinaus, aber in den nächsten Tagen musste ich immer an einer riesigen Tonne vorbei, die bis oben hin mit Blut gefüllt war. Die Schreie des Schweins habe ich noch immer im Ohr, die Schreie meines Bruders nicht mehr. Auch das war Österreich: gefährlich, mit Tonnen voller Blut. Ich war für die Einheimischen auch damals schon ein Piefke gewesen, wusste es aber nicht. Kinder wissen meistens noch nicht, dass sie Tschuschen, Piefkes, Ösis, Kanaken oder Katzlmacher sind.
    Wenn man dann irgendwann draufkommt, dass man Deutscher ist, ist das eine mittlere Katastrophe. Viel uncooler kann eine Nationalität nicht sein, spießig und schuldig, na bravo, lieber Gott, was für eine Mischung. Darum gab ich mich früh international. Lernte Sprachen, reiste viel, und wenn man mich fragte, woher ich kam, nuschelte ich nebulös herum oder sagte »Europa«. Ich glaube, dass die Deutschen die EU unbedingt deshalb wollten, weil sie jetzt immer sagen können, sie seien Europäer.
    Deutschland nervte, und Wien hatte 1987 als vorübergehende Wahlheimat etwas Freakiges. Ich kannte niemanden außer mir, der nach Wien ging, und fühlte mich allein schon deshalb wohl. Deutschland hinter mir gelassen, Südosteuropa vor mir – herrlich. Bereit für alles Fremde, ohne jedes Vorurteil, weil ich mir ja noch nie Gedanken über dieses Land und seine Bewohner gemacht hatte. Ich hatte keine Meinung zu Österreich und den Österreichern und freute mich darüber. Womit ich nicht gerechnet hatte: Jeder Österreicher hatte eine Meinung zu den Deutschen. Alle dort machten sich von Kindesbeinen an Gedanken über Deutsche, Deutschland und typisch Deutsches, und ich war plötzlich, stärker als je zuvor, »deitsch«, wie man nur deitsch sein kann.
    Nachdem ich also gerade versucht hatte, Deutschland hinter mir zu lassen, wurde ich in Wien zum täglichen Deutschsein verurteilt. Am ersten Abend saß ich mit Hobbydramaturgen der »Gruppe 80« in einem Gumpendorfer Lokal. Man begann über Peymann zu schimpfen, was ja völlig okay ist, aber man beschimpfte ihn aufgrund seiner Herkunft. Ich als naiver Internationalist versuchte die Wogen zu glätten, aber die Damen und Herren Freien Theaterschaffenden spuckten fast vor Erregung und brüllten: »Alle Deutschen sind präpotent!«
    Als meine Oma mir bei meinem nächsten Heimaturlaub erzählte, sie sei nach 2000 gegangen, weil »et dort gerade so billige Kartöffelchen gibt, datt hat mir et Änne erzählt«, erklärte ich ihr, sie sei präpotent. Meine dicke Tante Lotte, fast 200 Kilo schwer und mit einer riesigen Tüte Chips in der Hand, nickte lachend und meinte: »Dent, datt is sicher watt mit die Zähne.«
    »Prä Po Dent, das heißt, man hat hinten am Arsch Zähne«, erklärte Tante Lotte, während ihr Chipsbrösel auf den gewaltigen Busen fielen. »Datt is mein Zwilling. Ich wieg für zwei, bin aber allein auf die Welt gekommen, aber aus’m Steißbein wachsen mir Zähne. Datt isse. Oder er, weiß ich nich. Prä heißt hinten, ne, Dirk?«
    Nach wenigen Wochen verließ ich meine präpotenten Verwandten wieder, die als Großsippe in einem Arbeiterhaus in Duisburg lebten. Drei Großonkel und mein Urgroßvater hatten
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