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Sechs Österreicher unter den ersten fünf: Roman einer Entpiefkenisierung (German Edition)

Sechs Österreicher unter den ersten fünf: Roman einer Entpiefkenisierung (German Edition)

Titel: Sechs Österreicher unter den ersten fünf: Roman einer Entpiefkenisierung (German Edition)
Autoren: Dirk Stermann
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zusammen nur zwanzig Finger, die anderen lagen in der Fabrik. Bei der Verabschiedung wusste ich nie, wem ich welche Hand geben sollte. Dem einen fehlten an der linken Hand Finger, dem anderen rechts. Ich fuhr, wie meine Oma mal richtig sagte, zurück »nach Wien«.
    Dort grüßte mich täglich der Oachkatzlschwoaf. Wenig Beliebteres gibt es in Österreich, als Deutsche »Oachkatzlschwoaf« sagen zu lassen. Manchmal täglich, manchmal im Minutentakt. »Sag mal Oachkatzlschwoaf!« Noch nie hab ich irgendjemanden im Alltag »Oachkatzlschwoaf« sagen hören, und schon früher in Deutschland hab ich nie das Wort »Eichhörnchenschweif« gebraucht, nicht mal im Biologieunterricht.
    Deutsche lieben es, wenn Wiener sprechen. Deutsche glauben, alle Wiener sprächen so wie André Heller. Für Wiener wiederum klingen Deutsche wie ein stotternder, knatternder Leopard-II-Panzer. Aber irgendwie gescheit. Als ich auf der Uni während eines Seminars mal pinkeln musste und mich mit den Worten meldete: »Entschuldigung, ich muss mal pinkeln«, hörte ich, wie eine Studentin ihrem Sitznachbarn zuflüsterte: »Mah, is der gscheit.« Aber vielleicht lag die Reaktion auch an dem Fach Theaterwissenschaft, wo so ein Satz schon ganz klug wirken konnte.
    Auf dem Weg zum Klo fiel mir seinerzeit ein, dass mich einmal ein Steirer »Marmeladinger« genannt hatte, beim Frühstück, während er selber ein Marmeladenbrot aß. »Du isst ja selber Marmelade«, rief ich. »Ja, aber ihr Deutschen seid Marmeladinger«, sagte er und biss genauso wie jeder Deutsche ins Marillenmarmeladenbrot, das in Deutschland Aprikosenmarmeladenbrot heißt. Insofern sah ich mich eher als Aprikosinger denn als Marmeladinger. Ob Helmut Kohl eigentlich irgendwann mal zu seinem konservativen, österreichischen Parteifreund Andreas Khol gesagt hat: »Andreas, ich heiß Kohl, du heißt Khol, warum sagen’s zu mir Piefke?«
    War das alles wegen meines Urgroßvaters? Weil er der Frau in Salzburg auf den gewölbten Hut geklopft hatte?
    Meine Würstelfrau vom »Naschmarktstadl« war die Erste, die das Eis brach. Ein Jahr lang aß ich bei ihr fast täglich eine Wurst, meistens Käsekrainer mit süßem Senf und Brot. Ein Jahr lang sprach sie kein Wort mit mir, weder bei der Bestellung noch bei der Verabschiedung. Plötzlich, nach einem Jahr, sagte sie unvermittelt: »Ich habe Verwandte in Münster. Sind ganz liebe Leut.«
    Ich verschluckte mich fast, als ich das hörte. Schließlich verabschiedete ich mich, drehte mich um und vernahm im Rücken noch: »Baba.«
    Das war, nach einem Jahr, wie ein »Hallo«.

»Deine Eltern sind Alt-68er, meine Alt-
    38er«, meinte Robert, als wir im Frühling 2008 in Floridsdorf, dem 21. Wiener Gemeindebezirk, auf dem Weg zur Haltestelle der Linie 30 waren. Wir gingen an der Ostmarkgasse vorbei. Ein Plakat der Freiheitlichen Partei Österreichs strahlte uns entgegen. Es forderte Abendland in Christenhand .
    »Pummerin statt Muezzin, erinnerst du dich?«, fragte Robert.
    »Jaja«, antwortete ich gelangweilt. Die Pummerin ist die Glocke im Wiener Stephansdom, die zu Silvester das neue Jahr einläutet. Offenbar hatte die FPÖ kleine, rassistische Kinder zu einem Reimwettbewerb aufgerufen.
    Wir kamen an einem weiteren das Abendland rettenden Plakat vorbei. Hier hatte jemand Flaschenpfand übers Abendland geklebt. Flaschenpfand in Christenhand stand nun da. Wir mussten lachen.
    Als wir erneut an einem FPÖ-Plakat vorbeikamen, schrieb Robert mit einem Kugelschreiber Katholizismus ist heilbar über das Wort Christenhand . Als Volksschulkind hatte er mit den weißen Rettet den Steffl -Gelddosen aus Blech über die Mariahilfer Straße gehen müssen, um Geld für den unersättlichen Stephansdom zu sammeln. Der Dom war wie ein frommes Loch, in das Geld geworfen wurde. Ein Beweis, dass es Gott nicht geben konnte. Jedes Gebäude ist irgendwann einmal fertig, nur der Dom nicht. Ein offensichtlicher Sisyphusdom. Jedes Wiener Schulkind wurde seit Jahrzehnten dazu verdonnert, für den Steffl betteln zu gehen, egal, ob es Moslem war oder evangelisch und ausgetreten wie Robert.
    »Gott war auch evangelisch, zumindest zum Zeitpunkt, als er aus der Kirche austrat«, sagte Robert, der seinen Zivildienst in Israel gemacht hatte. In Ein Gedi, einem Kibbuz am Toten Meer, hatte er als Bademeister gearbeitet, der vielleicht sinnloseste Job der Welt – es kann dort niemand untergehen. Deshalb hatte er viel Zeit, sich mit jungen Studentinnen aus Tel Aviv oder Haifa zu
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