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Sechs Österreicher unter den ersten fünf: Roman einer Entpiefkenisierung (German Edition)

Sechs Österreicher unter den ersten fünf: Roman einer Entpiefkenisierung (German Edition)

Titel: Sechs Österreicher unter den ersten fünf: Roman einer Entpiefkenisierung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Stermann
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großen Lettern auf einer der Seiten. Ich las laut: »Hören Sie auf mit Córdoba. Wir haben einmal in fünfzig Jahren unseren großen Bruder geschlagen. Ja, wir haben ihn besiegt. Punkt. Aus. Das ist dreißig Jahre her. Das interessiert heute keinen Menschen mehr. Der Geist von Córdoba liegt in Córdoba begraben. Córdoba soll vergessen werden.«
    »Das ist das erste Mal, dass ich Krankl auf Hochdeutsch gehört hab«, sagte einer der Zwillinge. »Ich habe Bilder gesehen, 1978, als die Mannschaft in Schwechat gelandet ist. 5000 Leute waren am Flughafen. Mit einem riesigen Plakat: Gmunden begrüßt die BRD-Killer! «
    »Natürlich war das Spiel bedeutungslos«, sagte der DJ Merchant of Venice. »Wir waren bereits ausgeschieden, aber ihr noch nicht! Wir haben ’78 zum ersten Mal nach zwanzig Jahren wieder an einer WM teilgenommen, natürlich war das was Besonderes für uns. Wenn ihr 5 : 0 gewonnen hättet, wärt ihr ins Finale gekommen, bei einem Unentschieden hättet ihr um Platz 3 gespielt. Aber nein. Da war Krankl davor. Und tschüss!«
    Agnieszka verdrehte die Augen. Vielleicht dachte sie an das irreguläre Regenspiel bei der WM 1974, als Deutschland gegen die fußballerisch bessere polnische Mannschaft im Wasserball gewann? Hätten beide Mannschaften damals mit »Bre Regenz«-Schirmen gespielt, wäre Polen vielleicht Weltmeister geworden.
    Klaus nahm einen Schluck von dem schweren burgenländischen Rotwein. »Ich hab das Spiel damals zusammen mit meinen Eltern und meinem Großvater gesehen. Mein Großvater ist nach dem 1:0 gestorben. Kurz vor dem Eigentor von Vogts. Herzinfarkt. Gestorben, ohne das Wunder erlebt zu haben! Ein paar Minuten nur fehlten ihm zumindest bis zum Unentschieden!«
    Er sah mich flehentlich an. Ein paar Tage später führte Deutschland bei der EM 2008 im dritten Vorrundenspiel wieder 1 : 0 gegen Österreich. Selbst wenn die Enkel ihre sterbenden Großväter diesmal bis zur neunzigsten Minute lebendig hielten: Das Wunder wiederholte sich nicht. Ballack schoss ein, dabei blieb es, und Berti Vogts stand diesmal so wenig auf dem Platz wie Krankl, Prohaska und Obermayer.
    Zwei deutsche Fußballfans hatten bei den Zwillingen für das Spiel einen Flug mit dem Doppeldecker gebucht, um das Stadion und das Spiel aus der Luft zu sehen. Sie konnten nicht wissen, dass die Zwillinge Rapid-Fans waren, sie flogen daher mit den Deutschen in immer neuen Runden über das dunkle Gerhard-Hanappi-Stadion. Einige Kilometer entfernt leuchtete das ausverkaufte Ernst-Happel-Stadion in die Wiener Nacht.

Als ich 33 wurde, klingelte es in der
    Früh bei mir an der Tür. Ich öffnete. Meine brustamputierte Nachbarin stand nüchtern und lächelnd da, einen Kuchen in der Hand.
    »Ein Guglhupf«, sagte sie. »Zum Geburtstag. Alles Gute.«
    Sie überreichte mir den Kuchen, auf dem eine brennende Kerze steckte.
    »Vielen Dank. Woher wissen Sie, dass ich heute Geburtstag habe?«
    »Ihr Meldezettel. Lag im Treppenhaus. Bitte sehr!« Sie hatte meinen Meldeschein ordentlich in eine Klarsichtfolie gesteckt und reichte mir den Umschlag. »Achten Sie besser auf den Meldezettel. Sonst kann Sie jeder abmelden.«
    »Warum sollte das jemand tun?«, fragte ich.
    »Da gibt’s immer Gründe. Legen Sie den Meldeschein an einen sicheren Ort«, sagte sie und drehte sich um.
    »Wollen Sie den Kuchen nicht mit mir gemeinsam essen?«, rief ich ihr nach. Aber sie deutete lachend auf ihren Bauch und verschwand in ihrer Wohnung.
    Ich aß den Kuchen allein vor dem Ofen. Es roch nach Holz und Harz. Ich sah aus dem Fenster. Vor dem Künstlereingang vom Theater an der Wien standen Cats -Darsteller in Kunstpelzen. Sie taten mir sehr leid. Als erwachsener Mensch sollte man sich nicht jeden Abend als Katze verkleiden müssen.
    Mein Studium bewegte sich nach nunmehr zehn Jahren doch aufs Ende zu, aber ein paar Scheine brauchte ich noch. Ich besuchte zurzeit ein Seminar in Neuer Geschichte bei der Starprofessorin des Instituts. Sie erklärte alle Österreicher, die während der Nazizeit einen Fremdsender gehört hatten, sinngemäß zu Widerstandskämpfern. Mehrere Hunderttausend Widerstandskämpfer hatte es also in Österreich gegeben, die heimlich unter der Decke BBC hörten.
    Ich zog mir einen Mantel an und setzte meine warme Mütze auf. Die wärmste Mütze der Welt, die mir ein Freund aus München für mein neues Leben in Wien geschickt hatte. Seit zehn Jahren trug ich sie, und sie wärmte mich bei Schnee und Wind. Ich legte die Klarsichtfolie mit

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