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Schwimmen in der Nacht

Schwimmen in der Nacht

Titel: Schwimmen in der Nacht
Autoren: Jessica Keener
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Schlüsselbein. Tag und Nacht. Vater fand, sie sähe aus wie ein Hundehalsband. Aber sie trug sie trotzdem, als wollte sie ihn herausfordern, ihr eine Leine anzulegen und in das bessere Leben zu führen, das sie suchte.
    Das hat er wohl nie getan.
    Ich wollte mich auf den Boden setzen, aber die Schmerzen zwischen den Beinen hielten mich davon ab. Ich stapelte die Schachteln übereinander, brachte sie in mein Zimmer und breitete sie auf der Tagesdecke aus. Der Saphirring, eine weitere Perlenkette mit dazu passenden Ohrringen. Ein Tennis-Armband mit aneinandergereihten Diamanten, das sie im Garten getragen hatte. Sie hatte nie Angst gehabt, ihren Schmuck zu verlieren. Das meistewaren Familienerbstücke. Grandmas Rubinring war matt geworden. Ich polierte ihn am Nachthemd und spähte hinein, wie ich das als Kind immer gemacht hatte. Ich beobachtete zu gern, wie sich die Welt in Facetten und Winkel brach, wie Räume im Spiegelbild kopfstanden und sich in eine Richtung wanden, die ich nicht erwartet hatte.
    Ich hielt mir den Ring wieder ganz nah vors Auge und sah, wie sich die Welt drehte. Ich fand das tröstlich, als ob der Edelstein die ganze Zeit gewusst hätte, dass ich mich genau zehn Jahre später an diesen Moment erinnern würde, nur um zu sehen, dass sich eigentlich nichts verändert hatte, dass die Welt das nun mal so machte. Sie rotierte und verbog sich, sie hüpfte und verschob sich in einem stummen, glänzenden Lichtschnitz.
    Möglicherweise war Mutter da irgendwo drin. Vielleicht. Vielleicht konnte ich sie finden. Aber nicht so, wie ich gedacht oder gehofft hatte.
    Vor langer Zeit hatte ich einen geheimen Ort unter den Bäumen im Garten gehabt. Ich hatte einen Ort im Sommer, wenn es noch lange nach dem Essen hell blieb und Mutter mich in dem Wäldchen spielen ließ, während sie rauchte und telefonierte. Ich summte, verfolgte, wie das Himmelsblau dunkler wurde, sich über die Wolken ergoss, eine Farbenflut wurde, bis Mutter mich ins Haus rief. Ich wartete, bis sie mich rief. Ich verließ mich darauf.
    Heute rufe ich dich, Mommy. Bitte komm nach Hause. Komm. Sei bei mir.
    ~~~~~~~~~~~
    Auf dem Schulweg raschelte ich durch die Laubkaskaden im Rinnstein. Alles wieder normal, voller Stundenplan, inklusive Chor am Spätnachmittag. In der Schule kam ich an der Wand vorbei und grüßte Anthonys Schwester herzlich. Wir hatten Waffenstillstand geschlossen.
    Â«Er ist nach Vietnam gegangen», sagte sie.
    Â«Ich weiß», sagte ich und wollte noch etwas hinzufügen, merkte aber, dass ich genauso gut nach einem Flugzeug hätte greifen können, das schon abgehoben hatte. Ich nickte. Alles daran war traurig.
    Ihr Freund, ein muskelbepackter Footballspieler, drückte sie an sich, während sie ihre Morgenzigarette rauchte. Sie lächelte nicht. Für sie gab es im Leben genauso wenig zu lachen wie für mich. Deswegen mochte ich sie. Sie schminkte sich die Augen mit schwarzem Kajal, zog schmale Striche über Ober- und Unterlid, zeichnete sich eine Landkarte ins Gesicht, als wollte sie ein Revier markieren: Augen sind tabu. Schau sie dir von ferne an, aber komm nicht rein.
    Als ich durch den Tag ging, mit Sophie unsere Kurse besuchte und auch in der Mittagspause mit ihr zusammen saß, hatte ich das Gefühl, mich zu beobachten, eine Zeugin der Gegenwart zu sein, als wäre ich schon irgendwo in der Zukunft und wartete darauf, dass ich mich einholte. Ich würde noch ein Jahr lang hierbleiben, und wenn ich sorgfältig plante und gewissenhaft arbeitete, würde ich meinen Abschluss machen und mit Karacho in ein Musical-Leben durchstarten. Nach Kalifornien ziehen, mit einem Studioproduzenten rummachen, mit Peter in Kaffeehäusern singen. Er hatte schon jetzt eine kleine Anhängerschaft.
    Mr Edwards sagte, ich solle mein Talent pflegen.
    Ich konnte aufbrechen, hier weggehen, wo wir unser Haus nicht mehr hatten, die Spuren von Verlusten und Schmerzen hinter mir lassen, wenn das je möglich war. Diesen halbdunklen Dauerzustand hinter mir lassen, diesen nie enden wollenden Tunnel. Ich musste mich dafür entscheiden, meinen Ausweg zu finden.
    Beim Chor sah Mr Edwards von seinem Dirigentenpult auf und lächelte mir zu.
    Â«Schön, dass du wieder da bist, Sarah.»

 
    Â 
Koda
    Ich stand gemeinsam mit Sophie und den anderen Sopranistinnen auf dem Podium; und als der Augenblick für mein Solo gekommen war, ließ ich mein Innerstes in den
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