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Schwimmen in der Nacht

Schwimmen in der Nacht

Titel: Schwimmen in der Nacht
Autoren: Jessica Keener
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für ihr hervorragendes Schulsystem und die luxuriösen Wohngegenden bekannt. Seit meinem siebten Geburtstag erlaubte mir meine Mutter – ich war die einzige Tochter und Zweitälteste von vier Geschwistern –, ohne Begleitung eines Erwachsenen zum Soquaset-Platz laufen zu dürfen.
    Unser blaues Schindelhaus hatte Schrägen in den Schlafzimmern unterm Dach, wo mein ältester und mein jüngster Bruder schliefen, Fensterbänke in den Wohnzimmern, und Schränke, die vollgestopft waren mit Mutters Kleidern, hochhackigen Schuhen und Schuhanziehern aus Zedernholz. Die Nachbarn bewunderten unser Haus für die Buntglasfenster in Höhe des ersten Treppenabsatzes und auch für die im Esszimmer, die nach Westen hin wiesen. Wenn es Zeit fürs Abendessenwar, und die Sonne aus dem Vorgarten verschwand, legte sich ein zarter orangefarbener Schatten auf meinen Teller.
    Â«Ist jemand zu Hause? Hallo? Jemand zu Hause?» Unter der Woche kam Vater abends um viertel vor sechs die Einfahrt hoch gestapft, öffnete mit einem Schwung die Küchentür und brüllte zur Begrüßung durchs ganze Haus, als erwartete er, es menschenleer und völlig ausgeräumt vorzufinden. Er war ordentlicher Professor an einem kleinen Privat-College, und zwischen Vorlesungspult und Speisekammer änderte er selten den Ton. Professor Leonard Kunitz wäre nicht im Traum eingefallen, dass es da vielleicht einen Unterschied geben könnte.
    Â«Hallo? Irene! Ich bin da!» Mit einem entschlossenen Rums fiel die Küchentür zu.
    Â«Irene?»
    Â«Leonard, ich komme.»
    In weichem Kontrast zu ihm kam Mutter für einen gemeinsamen Drink vor dem Abendessen aus dem Schlafzimmer nach unten geschwebt. Sie bewegte sich schwerelos, eine Nebenwirkung ihrer Schmerztabletten; der, die sie dreimal täglich einnahm. Als die beiden zusammen im Herrenzimmer saßen, stürzte Vater einen doppelten Wodka die Kehle hinunter, wohingegen Mutter einen Scotch mit einem Spritzer Limette und einem Eiswürfel trank. Sie nahm mittelgroße Schlucke. Umrahmt vom Bogen der Erkerfenster, durch die man einen großartigen Blick auf den Garten hinterm Haus hatte, saßen sie in geblümten Sesseln und rauchten.
    Das Abendessen dauerte normalerweise genau zwanzigMinuten – ein hektisches Hinunterschlingen von Vorspeise und Hauptgang.
    Â«Es gibt noch mehr Hühnchen in der Küche», sagte Mutter. «Luanne? Bring doch alles, was noch da ist!» Luanne war unser schwarzes Hausmädchen aus Haiti.
    Vater saß an der Stirnseite und schlang das Essen wie ein ausgehungertes Kind hinunter, während er mit raschem Blick noch das geringste Fehlverhalten jedes Einzelnen um ihn herum erfasste. Er hatte schmale Schultern, einen leichten Bauchansatz, trug die Hemden locker in die Hose gesteckt, dazu Jacketts, Schlips und zerknitterte Cordhosen, die ihn von Mutters tadellosem Erscheinungsbild und dem ihrer Country-Club-Gefolgschaft unterschieden.
    Â«Leonard, es ist noch reichlich Reis da.»
    Ihm gegenüber saß Mutter, gespannt wie ein Violinenbogen, mit dem Rücken zur Küche. Wir Kinder saßen jeweils zu zweit an den Tischseiten. Mutter trug ihre blond gefärbten Haare kurz, gelegt wie Rosenblätter, ihre Lieblingsblumen. So hübsch zurechtgemacht in ihrem Zweiteiler mit dazu passendem Tuch sah sie formvollendet aus wie eine Glasvase, immer edel, selbst dann, wenn sie mit weiten Hosen aus dem Garten kam, noch mit Dreck und Dornen an den Handschuhen.
    Â«Du kannst jetzt den Kaffee machen», sagte Mutter, als Luanne das übrige Huhn und eine abgedeckte Schüssel Reis hereinbrachte und auf den Tisch stellte.
    Â«Was gibt es zum Nachtisch, Irene?», fragte Vater.
    Â«Cookies.»
    Mutter hatte ihre kleinen Besonderheiten – zierliche Handgelenke und schlanke Waden, die sie bei Partysgern in Szene setzte – und die größte Schuhsammlung weit und breit. Auf ihrer Seite der Familie gab es Großvater Joe, der ein erfolgreiches Schuhunternehmen aufgebaut hatte, das von meinem Onkel übernommen worden war, der es jetzt leitete. Mutter war stille Teilhaberin und der Grund, weshalb andere Leute sagten, wir seien reich.
    Unsere Straße war nicht sehr lang, und uns gegenüber wohnte Mrs Brenwald, eine ältere Dame, die nie einen Fuß vor die Tür setzte. Samstags kam immer ein Junge vom Stadtmarkt, der ihr die Einkäufe lieferte und auf die Veranda vorm Haus stellte. Wenn
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