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Schwimmen in der Nacht

Schwimmen in der Nacht

Titel: Schwimmen in der Nacht
Autoren: Jessica Keener
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ich abends nichts zu tun hatte, hockte ich mich auf den Boden vorm Wohnzimmerfenster und wartete darauf, dass sie hinter einer ihrer Gardinen auftauchte. Hatte sie ein Geheimnis zu verbergen? Etwas Grauenvolles aus der Vergangenheit? Mein jüngerer Bruder Robert hielt sie für eine Hexe, aber ich war überzeugt, dass sie in einer Welt zwischen Himmel und Erde schwebte – ein harmloser Geist war, ein verirrter Engel.
    Der einzige Beweis dafür, dass Mrs Brenwald einst ein Leben außerhalb des Hauses geführt haben musste, stand in ihrer Einfahrt: ein alter Ford, verhüllt von einer Plane, fest verankert auf völlig aus der Puste geratenen Reifen, ausgequetscht von den stetig vergehenden Jahreszeiten. Vater hatte mehr als einmal bei der Polizei angerufen, um das Auto abholen zu lassen. «Schrotthaufen» nannte er ihn, aber selbst gegen Vater war der Wagen immun.
    Das bestätigte mir, dass Mrs Brenwald vor vielen Jahren eine Grundsatzentscheidung getroffen und ihr Lebenin seine jetzige Form gezwungen hatte. Ich fand die Vorstellung rätselhaft und reizvoll zugleich. Das eigene Schicksal zu formen, erschien mir gewaltig, als würde man einen Tunnel durch einen Berg sprengen, um auf die andere Seite zu gelangen. Aber genau genommen war es das, was ich tun wollte.
    Ich möchte glauben, dass auch Mutter das gewollt hatte, einen Weg zu wählen, der anders und selbst für sie unerwartet war.
    ~~~~~~~~~~~
    Â«Sarah, bitte geh und hol mir
Die Gesammelten Werke»,
sagte Vater. Das letzte Stück Hühnerbrust im Mund, schwang er die Gabel wie ein Schwert und stocherte damit in der Luft herum.
    Ich lief durch die Zimmer über ausgelegtes Grün, das dem der abgemähten Rasenflächen im Country Club glich, zu dem wir gehörten. Im Herrenzimmer im Keller, das eine eingebaute Bar hatte, fand ich den Shakespeare in einem der Bücherregale hinter einem Kinderfoto von Vater. Seine dichten Haare fielen ihm in Ringellocken auf die Schultern, die weiße Schürze – zur damaligen Zeit ein beliebtes Kleidungsstück für Kinder – säumte seine Fußknöchel.
    Meine Urgroßmutter, Sarah Davida, stand auch gerahmt da auf dem Regalbrett und starrte mich aus ihrem kleinen russischen Dorf an. Ihr Name, den ich geerbt habe, bedeutete auf Hebräisch «geliebte Prinzessin». Sie hatte ein Opernstar werden wollen, aber das war ein absurder Traum für ein armes jüdisches Bauernmädchen.Stattdessen hatte sie Kühe gemolken und einen Lehrer aus dem alten Land geheiratet, einen stillen, gebildeten Mann, der sich tagein, tagaus über die Thora beugte. Ich starrte ihr Foto an und fragte mich, wie es sich angefühlt hatte, diesen Traum aufzugeben; vor einer Gebirgswand zu stehen, darüber der wunderschöne Himmel, und einzusehen, dass sie sich umdrehen und in ein kleines schmuddeliges Dorf zurückkehren musste. Ein solches Schicksal wollte ich mir ersparen.
    Sie hatte in der
Schul
gesungen. Sie hatte bei der Hausarbeit gesungen, damit sie ihr leichter von der Hand ging, sie hatte für ihre fünf Kinder vor dem Schlafengehen gesungen; sie hatte in ihren Kindern einen musikalischen Samen gepflanzt, der jetzt auch in mir wuchs.
    Â 
    Somewhere over the rainbow, way up high –
    Â 
    Judy Garlands Stimme stieg mir in den Kopf, als ich den Blick über die aufgestellten Familienfotos gleiten ließ. Ein Stückchen weiter auf dem Regalbrett stand Vaters Mutter mit dem kantigen Gesicht und schaute mich müde an. Sie war gestorben, als ich noch zu klein war, um mich später an sie erinnern zu können, eine Erkältung hatte sich zu einer Lungenentzündung ausgewachsen. Vater erzählte uns, sie wäre manchmal melancholisch gewesen, hätte dunkle Phasen gehabt, in denen sie die Jalousien immer geschlossen hielt. In ihrer Wohnung in Brooklyn hatte sie den Tee auf einem Sofa «in der Farbe von Flamingos» eingenommen! An besseren Tagen hatte sich etwas in ihr verschoben, sagte er – dann war sie die Sonne, die den Frühstückstisch erwärmte –, und raschfüllte sich das Haus mit Freundinnen aus ihrer Frauenvereinigung, den Leuten aus der Synagoge und den Kuchenbasar-Damen. Der Geruch nach Zimt und Kaffee stand bei ihm zu Hause für gute Zeiten. Vielleicht war es das, was Vater in Mutter gesehen hatte, als er sie kennenlernte: eine Dunkelheit, die ihm aus seiner Kindheit vertraut war.
    Â«Sarah? Bist du verloren
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