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Brunetti 18 - Schöner Schein

Brunetti 18 - Schöner Schein

Titel: Brunetti 18 - Schöner Schein
Autoren: Donna Leon
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    D ie Frau fiel ihm auf, als sie beide sich zu ihrer Abendeinladung auf den Weg gemacht hatten. Er und Paola waren vor einer Buchhandlung stehen geblieben, und während er sich vor der spiegelnden Scheibe die Krawatte richtete, sah Brunetti in seinem Rücken die Frau, die sich, Arm in Arm mit einem älteren Mann, Richtung Campo San Barnaba entfernte. Er sah sie von hinten, der Mann zu ihrer Linken. Als Erstes bemerkte Brunetti ihr Haar, hellblond wie Paolas, zu einem sanften Knoten tief in ihrem Nacken geschlungen. Als er sich umwandte, um sie genauer zu sehen, war das Paar schon an ihnen vorbei und näherte sich der Brücke, die Richtung San Barnaba führte.
    Ihr Mantel - vielleicht Hermelin, vielleicht Zobel: auf jeden Fall etwas Teureres als Nerz, dachte Brunetti - reichte bis knapp über sehr zierliche Fesseln und Schuhe mit Absätzen, die eigentlich zu hoch waren für die noch von Schnee- und Eisresten bedeckten Calli.
    Brunetti kannte den Mann, kam aber nicht auf seinen Namen: Nur eine vage Erinnerung an Reichtum und Einfluss stieg in ihm auf. Kleiner und breiter als die Frau, bemühte sich der Mann mehr als sie, den vereisten Flächen auszuweichen. Am Fuß der Brücke machte er plötzlich einen Schritt zur Seite und suchte mit einer Hand am Geländer Halt. Die Frau an seinem Arm wurde mitgezogen und drehte sich auf einem Fuß, den anderen noch in der Schwebe, so dass der immer noch neugierige Brunetti sie nun nicht mehr richtig sehen konnte.
    »Wenn du Lust hast, Guido«, sagte Paola neben ihm, »kannst du mir zum Geburtstag die neue William-James-Biographie schenken.«
    Brunetti riss sich von dem Pärchen los und folgte dem Zeigefinger seiner Frau, der auf ein dickes Buch im hinteren Teil des Schaufensters wies.
    »Ich dachte, der heißt Henry«, sagte er, ohne eine Miene zu verziehen.
    Sie zog ihn mit einem Ruck enger an sich. »Stell dich nicht dumm, Guido Brunetti. Du weißt, wer William James ist.«
    Er nickte. »Aber warum interessiert dich die Biographie des Bruders?«
    »Mich interessiert die ganze Familie und überhaupt so ziemlich alles, was ihn zu dem gemacht haben könnte, der er war.«
    Brunetti dachte an die Zeit vor über zwanzig Jahren, als er Paola kennengelernt und den brennenden Wunsch verspürt hatte, alles über sie in Erfahrung zu bringen: über ihre Familie, ihre Vorlieben, ihre Freunde, alles, was ihm mehr über diese wunderbare junge Frau sagen konnte, die ein gütiges Schicksal ihm zwischen den Regalen der Universitätsbibliothek über den Weg geschickt hatte. Brunetti fand eine solche Wissbegier durchaus normal, wenn es um einen lebenden Menschen ging. Aber bei einem Schriftsteller, der seit fast hundert Jahren tot war?
    »Was fasziniert dich nur so an ihm?«, bohrte er nicht zum ersten Mal. Brunetti merkte selbst, dass er sich wieder einmal wie der reizbare, eifersüchtige Ehemann aufführte, den ihre Schwärmerei für Henry James schon oft aus ihm gemacht hatte.
    Sie ließ seinen Arm los und trat zurück, als wollte sie sich den Mann, mit dem sie aus irgendeinem Grund verheiratet war, einmal genauer ansehen. »Weil er viele Dinge versteht«, sagte sie endlich.
    »Aha«, meinte Brunetti nur wortkarg. »Sonst nichts?« Ihm schien, das sei das mindeste, was man von einem Schriftsteller erwarten konnte.
    »Und weil er auch uns dazu bringt, diese Dinge zu verstehen«, fügte sie hinzu.
    Und damit war das Thema erledigt.
    Paola schien der Ansicht, sie hätten jetzt mehr als genug Zeit damit verbracht. »Komm. Du weißt, wie mein Vater es hasst, wenn man zu spät kommt.«
    Sie ließen die Buchhandlung hinter sich. Am Fuß der Brücke blieb Paola stehen und sah ihm ins Gesicht. »Du weißt, ich habe dir das schon oft gesagt«, fing sie an. Er wusste, was jetzt kam, und es stimmte, sie hatte ihm das schon oft gesagt. »Du bist Henry James wirklich sehr ähnlich.«
    Wie jedes Mal, wenn sie ihm das sagte, wusste Brunetti nicht, ob er sich durch diesen Vergleich geschmeichelt oder gekränkt fühlen sollte. Zum Glück hatte er im Lauf der Jahre gelernt, nicht jedes Mal die Grundlagen ihrer Ehe in Frage zu stellen.
    »Und du willst die Dinge verstehen, Guido. Sonst wärst du wohl nicht Polizist geworden.« Sie überlegte einen Moment. »Aber du willst auch, dass andere Leute diese Dinge verstehen.« Sie wandte sich ab, ging die Brücke hinauf und rief noch über die Schulter: »Genau wie er.«
    Brunetti ließ ihr bis zur Mitte der Brücke einen Vorsprung, ehe er ihr nachrief: »Heißt das,
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