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Schwimmen in der Nacht

Schwimmen in der Nacht

Titel: Schwimmen in der Nacht
Autoren: Jessica Keener
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auf FM. Ich hörte, wie sein Autoradio die tiefe, gepflegte Stimme eines DJ von sich gab, Wortkaskaden, die sexy und wütend klangen; fermentiert in Schlafmangel und Drogen.
    Ich stapelte meine Schulbücher am Kopfende des Bettes auf den Fußboden. Nachmittags klopfte Sophie dann ein paarmal leise an meine Tür, bevor sie hereinkam. Sie brachte die Frische des Schulalltags mit sich, wie das Leben vor Mutters Tod gewesen sein mochte, vor Vaters Zerfall und bevor sich Sherry an mein Leben gebunden hatte wie ein Seil aus zusammengeknoteten Bettlaken,das man an einer Mauer herablässt; als wartete sie nur darauf, dass ich mich abseilte oder über eingebildete Flammen hinweg in ihre rettenden Arme sprang.
    Ich verachtete Sherry nicht mehr. Sie meinte es nur gut, aber Dora meinte es besser. Und Mutter hätte es nicht gutgeheißen. Ich weiß noch, wie sie auf der Party reagiert hatte, als Sherry im Garten um Vater herumscharwenzelt war und verzweifelt versucht hatte, in ihrem Partykleidchen und dem Umhängetuch nicht derangiert auszusehen. Mit ihrem draufgeklatschten Lippenstift. Ihren Nippeln. Aber Vater und Shell mochten irgendwas an ihr. Sie war nicht unberührbar. Sherry konnte Kartoffelchips aus einer Kuhle in ihrer Hand futtern. Sie war nicht zimperlich. Sie lachte über ihre dämlichen Witze.
    Mutter hielt sich zurück. Sie bewegte sich in einer geheimnisumwobenen Umlaufbahn und umkreiste uns zu schnell, als dass wir hätten mithalten können. Am Abend jener Party ging Mutter in den Garten und suchte etwas Besseres, Höheres, so hoch, dass weder sie noch Vater es berühren konnten. Ihren Kern hat er nie zu fassen bekommen.
    Wo war sie? Warum konnte ich sie nicht spüren? Warum konnte ich mich nicht daran erinnern, wie sie gewesen war? Wo ich doch ihre Kleider sah, ihre Faltenmode aus Chiffon, ihre Schuhe mit den Seidenspitzen, die goldenen Knöpfe an ihrem Mantel. Bitte, Mutter.
    Wenn das das Erwachsenwerden war, wäre ich gern Kind geblieben, aber ich sah keinen anderen Weg, als mich weiter zu entwickeln und etwas Besseres zu suchen. Ich griff nach den Noten unter dem Nachttisch. Mr Edwardswollte, dass ich sang. Ich nahm die Noten in die Hand; hielt sie fest. Ich brauchte diese Noten, diese Musik.
    ~~~~~~~~~~~
    Dora war mit dem Staubsaugen fertig. Sie hatte saubere Handtücher in den Wäscheschrank im ersten Stock geschichtet. Danach ging sie in Mutters Zimmer. Seit Unterzeichnung des Kaufvertrags war aus Mutters Zimmer ein Packzimmer geworden.
    Ich fühlte mich soweit wohlauf, dass ich hinübergehen und zusehen konnte, wie sie Mutters Schrank ausräumte. Sorgfältig legte sie Chiffonkleider, Wollkostüme und Leinenhosen zusammen. Schuhe in verschiedenen Farben packte sie in Kisten, die sie dann beschriftete. Der Geigenkoffer war schon nach unten gebracht worden und lag bei den Sachen, die wir mitnehmen würden.
    Â«Du solltest dich noch ausruhen», sagte sie und musterte mich streng.
    Â«Es geht mir heute besser. Was machen wir denn mit denen?», fragte ich und bog die Klappe eines Kartons mit lauter Pullovern beiseite.
    Â«Die kommen mit ins neue Haus.»
    Vater hatte ein Zweifamilienhaus an einer Straße gefunden, die fast im Stadtzentrum lag. Zur Schule würden wir es nicht mehr so weit haben. Wir würden ohne Dora im ersten Stock wohnen. Ein älteres Paar, das dort schon zweiundzwanzig Jahre lang wohnte, würde bleiben. Vielleicht waren sie ja ganz nett. Dora würde viermal die Woche vom Haus ihrer Tochter in Roxbury pendeln.
    Â«Nimm doch ein paar für deine Töchter mit. Mir passen sie eh nicht.» Ich hatte breitere Schultern und war größer als Mutter mit ihrer zarten Statur. Sie hatte auch schmalere Schuhe getragen.
    Dora legte weitere Kleidungsstücke zusammen und überhörte meinen Vorschlag. «Meine Mädchen sind alle versorgt. Schau dir lieber mal den Schmuck deiner Mutter an; der passt bei jeder Größe. Bring ihn in dein Zimmer. Schau ihn dir mal an.»
    In Mutters Ankleidekammer öffnete ich die Schubladen der Einbaukommode. Sie hatte ihren Schmuck in verschiedenen Schachteln aufbewahrt: goldene Deckel auf fest zugeklemmten blauen Samtschachteln. Ich öffnete und schloss jede Schachtel einzeln, nahm vorsichtig eine lange, vertraute Perlenkette heraus wie fertige Spaghetti aus dem kochenden Wasser. Die Kette hatte sie zu all ihren Clubpartys getragen. Die Halskette wand sich zweimal um ihr
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