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Schwesternmord

Schwesternmord

Titel: Schwesternmord
Autoren: Tess Gerritsen
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den Mund hielten. Alice kann von den Lippen lesen, wir dürfen sie nicht sehen lassen, dass wir über sie reden.
    Jetzt fingen auch ein paar von den Jungen an zu lachen und zeigten mit den Fingern auf sie. Was war denn da so komisch?
    Alice blickte nach unten. Zu ihrem Entsetzen sah sie, dass ihre Bluse oben weit offen stand. Der Knopf war abgefallen.
    Es läutete zum Schulschluss.
    Alice schnappte sich ihre Schultasche, presste sie fest an die Brust und verließ fluchtartig das Klassenzimmer. Sie wagte es nicht, irgendjemandem in die Augen zu schauen, während sie hinausstürmte, den Kopf gesenkt, mit einem dicken Kloß im Hals und Tränen in den Augen. Sie ging schnurstracks zur Toilette, wo sie sich in einer Kabine einschloss. Andere Mädchen kamen herein und drängten sich lachend und schwatzend vor dem Spiegel, um sich zurechtzumachen, während Alice sich hinter der verriegelten Tür versteckte. Sie konnte die verschiedenen Parfüms riechen,
sie spürte den Luftzug, der jedes Mal durch den Raum wehte, wenn jemand die Tür aufstieß. Diese verwöhnten Mädchen mit ihren nagelneuen Twinsets. Die verloren niemals einen Knopf; die würden niemals mit billigen Röcken von der Stange und Schuhen mit Pappsohlen in die Schule kommen.
    Geht weg. Könnt ihr nicht einfach alle verschwinden?
    Endlich kehrte Ruhe ein.
    Alice presste ein Ohr an die Tür der Kabine und horchte angestrengt, ob noch irgendjemand in der Toilette war. Dann spähte sie durch den Spalt und sah, dass niemand vor dem Spiegel stand. Erst jetzt wagte sie sich aus ihrem Versteck hervor.
    Auch der Flur lag leer und verlassen, alle waren nach Hause gegangen. Niemand mehr da, der sie quälen konnte. Mit ängstlich hochgezogenen Schultern ging sie den Korridor entlang, vorbei an den verbeulten Schließfachtüren und den Plakaten, die den Halloween-Ball in zwei Wochen ankündigten. Ein Ball, zu dem sie ganz bestimmt nicht gehen würde. Die demütigende Erfahrung der Tanzveranstaltung von letzter Woche steckte ihr noch in den Knochen und würde sie wahrscheinlich bis ans Ende ihrer Tage verfolgen. Die zwei Stunden, die sie mutterseelenallein an der Wand gestanden hatte, vergeblich hoffend, dass einer der Jungen sie endlich auffordern würde. Als dann schließlich doch ein Schüler auf sie zugekommen war, hatte er sie nicht etwa auf die Tanzfläche gebeten. Stattdessen hatte er sich plötzlich zusammengekrümmt und ihr auf die Schuhe gekotzt. Das war’s – das war ihr letzter Ball gewesen. Erst zwei Monate war sie in dieser Stadt, und schon wünschte sie sich, ihre Mutter würde ihre Sachen packen, ihre Familie schnappen und wieder von hier wegziehen, irgendwohin, wo sie ganz von vorne anfangen konnten. Wo endlich alles anders wäre.
    Nur leider wird es nie anders.
    Alice trat aus dem Haupteingang der Schule hinaus in die Herbstsonne. Sie beugte sich über ihr Fahrrad, um das Schloss aufzusperren, und war so vertieft in ihr Tun, dass sie
gar nicht hörte, wie Schritte sich näherten. Erst als sein Schatten auf ihr Gesicht fiel, merkte sie, dass Elijah neben ihr stand.
    »Hallo, Alice.«
    Sie fuhr hoch, und das Fahrrad landete scheppernd auf der Seite. O Gott, sie war eine solche Idiotin. Wie konnte sie nur so ungeschickt sein?
    »Das war ganz schön schwer, nicht wahr?« Er sprach langsam und deutlich. Das war noch etwas, was sie an Elijah mochte: Im Gegensatz zu ihren anderen Klassenkameraden war seine Aussprache immer klar; er nuschelte nie. Und er ließ sie immer seine Lippen sehen. Er kennt mein Geheimnis, dachte sie. Und trotzdem will er mein Freund sein.
    »Und, hast du alle Fragen beantwortet?«, fragte er.
    Sie bückte sich, um ihr Rad aufzuheben. »Die Antworten habe ich alle gewusst. Ich hätte bloß mehr Zeit gebraucht.« Als sie sich aufrichtete, bemerkte sie, dass sein Blick auf ihre Bluse gerichtet war. Auf die Stelle, wo der Knopf fehlte. Errötend verschränkte sie die Arme vor der Brust.
    »Ich habe eine Sicherheitsnadel«, sagte er.
    »Was?«
    Er griff in die Hosentasche und zog eine Nadel hervor. »Ich verliere auch andauernd Knöpfe. Ich weiß, wie peinlich das ist. Komm, ich mach sie dir fest.«
    Sie hielt den Atem an, als er nach dem Kragen ihrer Bluse griff, und sie konnte das Zittern kaum unterdrücken, als er seinen Finger unter den Stoff schob, um die Nadel zu schließen. Spürt er, wie mein Herz klopft? Weiß er, dass mir von seiner Berührung ganz schwindlig wird?
    Als er zurücktrat, ließ sie die Luft aus ihren Lungen entweichen.
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