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Schwesternmord

Schwesternmord

Titel: Schwesternmord
Autoren: Tess Gerritsen
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sie sich hochziehen, dann rutschte sie schon wieder ab. Ihre Rufe hallten schrill in der Dunkelheit.
    »Elijah!«, schrie sie.
    Doch die einzige Antwort war das Poltern der Steine, die schwer auf das Holz fielen.

1
    Pensez le matin que vous n’irez peut-être pas jusqu’au soir, Et au soir que vous n’irez peut-être pas jusqu’au matin.
     
    Bedenke jeden Morgen, dass du vielleicht den Tag nicht überleben wirst, Und jeden Abend, dass du vielleicht die Nacht nicht überleben wirst.
     
    INSCHRIFT AUF EINER TAFEL IN DEN KATAKOMBEN VON PARIS
     
     
    Über einer Mauer aus kunstvoll gestapelten Oberschenkelund Schienbeinknochen starrten ihr die leeren Augenhöhlen einer Reihe von Schädeln entgegen. Es war Juni, und sie wusste, dass zwanzig Meter über ihr in den Straßen von Paris die Sonne schien. Dennoch fröstelte Dr. Maura Isles bei ihrem Gang durch die düsteren unterirdischen Passagen, deren Wände fast bis zur Decke von menschlichen Überresten gesäumt waren. Sie war vertraut mit dem Tod, stand mit ihm praktisch auf Du und Du; unzählige Male hatte sie ihm in ihrem Autopsiesaal ins Gesicht geblickt, doch selbst sie war von den Dimensionen dieser makabren Ausstellung überwältigt, von der schieren Menge von Knochen, die in diesem Tunnellabyrinth unter den Straßen der Stadt des Lichts lagerten. Der Rundgang von einem Kilometer Länge führte sie nur durch einen kleinen Teil der Katakomben. Zahlreiche Seitenstollen und mit Knochen gefüllte Kammern waren für Touristen nicht zugänglich, ihre dunklen Eingänge gähnten verlockend hinter verschlossenen Eisentoren.
Hier ruhten die sterblichen Überreste von sechs Millionen Parisern, von Menschen, die einst die Sonnenwärme auf ihren Gesichtern gespürt, die Hunger und Durst und Liebe empfunden hatten, die das Pochen des Herzens in ihrer Brust und den Luftstrom ihres eigenen Atems gespürt hatten. Diese Menschen hätten sich wohl niemals vorstellen können, dass ihre Knochen einst aus ihrer Ruhestätte auf dem Friedhof ausgegraben und in dieses düstere Beinhaus unter der Stadt verfrachtet würden.
    Dass sie eines Tages hier ausgestellt sein würden, wo Horden von Touristen sie begaffen konnten.
    Um Platz für den stetigen Strom von Leichen zu schaffen, mit dem die überfüllten Pariser Friedhöfe nicht mehr fertig wurden, hatte man die Knochen vor über eineinhalb Jahrhunderten exhumiert und in das weit verzweigte Stollennetz dieser unterirdischen Steinbrüche verfrachtet. Die Arbeiter, die mit der Überführung der Gebeine betraut worden waren, hatten sie nicht einfach achtlos auf Haufen geworfen; nein, sie hatten sich ihrer makabren Aufgabe mit einem Sinn für Ästhetik entledigt; hatten die Knochen mühsam aufgeschichtet und zu wunderlichen Mustern zusammengesetzt. Wie pedantische Steinmetze hatten sie hohe Mauern errichtet, gegliedert durch abwechselnde Schichten von Schädeln und langen Knochen, und hatten so den Verfall in eine künstlerische Aussage umgewandelt. Und sie hatten Tafeln mit grimmigen Sinnsprüchen angebracht, die all jene, die durch diese Gänge schritten, daran erinnerten, dass der Tod niemanden verschont.
    Mauras Blick fiel auf eine dieser Tafeln, und sie ließ den Strom der Besucher an sich vorbeiziehen, um die Inschrift zu lesen. Während sie sich mit ihrem lückenhaften Schulfranzösisch mühte, den Spruch zu übersetzen, hörte sie das Echo von Kinderlachen, das von den Wänden der düsteren Gänge widerhallte – ein Geräusch, das so gar nicht in diese Umgebung zu passen schien. Dann vernahm sie eine Männerstimme, die mit näselndem texanischem Akzent murmelte:
»Das ist doch der glatte Wahnsinn, Sherry, findest du nicht? Da läuft’s mir eiskalt den Rücken runter, wenn ich das sehe …«
    Das texanische Ehepaar ging weiter, ihre Stimmen verhallten, und bald war kein Laut mehr zu hören. Jetzt war Maura ganz allein in der Kammer, wo sie den Staub der Jahrhunderte einatmete. Im schwachen Schein der Tunnelbeleuchtung war im Lauf der Jahrzehnte auf einer Gruppe von Schädeln Schimmel gewachsen und hatte sie mit einer grünlich glänzenden Schicht überzogen. In der Stirn eines Schädels klaffte ein einzelnes Einschussloch wie ein drittes Auge.
    Ich weiß, wie du gestorben bist.
    Die Kälte der Tunnelluft war ihr in die Glieder gekrochen. Doch sie verharrte an Ort und Stelle, fest entschlossen, diese Inschrift zu übersetzen und ihr Entsetzen zu unterdrücken, indem sie ihr Gehirn mit dieser banalen Quizaufgabe beschäftigte. Komm
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