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Schwesternmord

Schwesternmord

Titel: Schwesternmord
Autoren: Tess Gerritsen
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Blätter weg, und sie sah Büschel von schwarzem Fell und dürre Rippen. Eine höckrige Kette
aus Knochen – das Rückgrat. Beinknochen, so zart und dünn wie kleine Zweige.
    »Na, ist das nichts? Sie riecht schon gar nicht mehr«, sagte er. »Liegt jetzt schon fast sieben Monate da unten. Als ich das letzte Mal nachgeschaut habe, war noch ein bisschen Fleisch dran. Toll, wie auch das nach und nach verschwindet. Im Mai, kaum dass es ein bisschen warm geworden war, ging es plötzlich rasend schnell mit der Verwesung.«
    »Was ist es?«
    »Kannst du das nicht erkennen?«
    »Nein.«
    Er ergriff den Schädel und drehte ihn ein wenig, bis er sich von der Wirbelsäule löste. Sie zuckte zurück, als er ihn ihr zuwarf.
    »Nicht!«, kreischte sie.
    »Miau!«
    »Elijah!«
    »Na, du wolltest doch wissen, was es ist.«
    Sie starrte die leeren Augenhöhlen an. »Es ist eine Katze?«
    Er nahm eine Einkaufstüte aus seiner Schultasche und begann die Knochen hineinzulegen.
    »Was willst du mit dem Skelett machen?«
    »Das ist mein naturwissenschaftliches Projekt. Vom Kätzchen zum Knochengerüst in sieben Monaten.«
    »Wie bist du an die Katze rangekommen?«
    »Hab sie gefunden.«
    »Du hast einfach so eine tote Katze gefunden ?«
    Er blickte auf. Mit einem Lächeln in seinen blauen Augen. Aber es waren keine Tony-Curtis-Augen mehr; diese Augen jagten ihr Angst ein. »Wer sagt denn, dass sie tot war?«
    Ihr Herz pochte plötzlich wie wild. Sie trat einen Schritt zurück. »Du, ich glaube, ich muss jetzt nach Hause.«
    »Warum?«
    »Hausaufgaben. Ich muss meine Hausaufgaben machen.«
    Er war behände aufgesprungen und stand jetzt vor ihr.
Das Lächeln war verschwunden, war einem Ausdruck ruhiger Erwartung gewichen.
    »Wir … sehen uns dann in der Schule«, sagte sie. Sie wich zurück und blickte verstohlen nach links und nach rechts, doch der Wald sah nach jeder Richtung gleich aus. Von wo waren sie gekommen? Wohin sollte sie sich wenden?
    »Aber du bist doch gerade erst gekommen, Alice«, sagte er. Er hielt etwas in der Hand. Erst als er es über den Kopf hob, sah sie, was es war.
    Ein Stein.
    Der Schlag zwang sie in die Knie. Sie kauerte auf der Erde, ihr wurde schwarz vor Augen, und ihre Arme und Beine waren ohne Gefühl. Sie spürte keinen Schmerz, nur eine dumpfe, ungläubige Verwunderung darüber, dass er sie geschlagen hatte. Sie begann zu kriechen, doch sie konnte nicht sehen, wohin sie sich bewegte. Dann packte er sie an den Fußgelenken und riss sie zurück. Ihr Gesicht schrammte über die Erde, als er sie mit den Füßen voran zu der Grube schleifte. Sie versuchte ihre Beine loszureißen, sie wand sich, wollte schreien, doch ihr Mund füllte sich mit Erde und kleinen Zweigen. In dem Moment, als ihre Füße über den Rand rutschten, bekam sie ein junges Bäumchen zu fassen und hielt sich krampfhaft daran fest, während ihre Beine schon über den Grubenrand hingen.
    »Lass los, Alice«, befahl er.
    »Zieh mich hoch! Zieh mich hoch!«
    »Lass los , hab ich gesagt!« Er packte einen Stein und ließ ihn auf ihre Hand niederfahren.
    Sie schrie auf und musste das Bäumchen loslassen; mit den Füßen voran rutschte sie in die Grube und landete auf einem Bett aus totem Laub.
    »Alice. Alice.«
    Benommen von ihrem Sturz blickte sie zu dem kreisförmigen Stück Himmel auf und sah die Umrisse seines Kopfes. Er beugte sich über den Rand der Grube und starrte auf sie herab.

    »Warum tust du das?«, schluchzte sie. »Warum?«
    »Es hat nichts mit dir zu tun. Ich will einfach nur sehen, wie lange es dauert. Sieben Monate bei einem Kätzchen. Was denkst du, wie lange es bei dir dauern wird?«
    »Das kannst du nicht mit mir machen!«
    »Bye-bye, Alice.«
    »Elijah! Elijah! «
    Die Holzplanken schoben sich über die Öffnung, und der Lichtfleck verfinsterte sich. Das letzte Stückchen Himmel verschwand vor ihren Augen. Das passiert nicht wirklich, dachte sie. Das ist nur ein schlechter Scherz. Er will mir Angst einjagen. Er wird mich ein paar Minuten hier unten schmoren lassen, und dann wird er zurückkommen und mich rausholen. Natürlich wird er zurückkommen.
    Dann hörte sie plötzlich dumpfe Schläge auf der Abdeckung der Grube. Steine. Er beschwert die Bretter mit Steinen.
    Alice rappelte sich auf und versuchte aus dem Erdloch zu klettern. Sie fand nur eine dürre, vertrocknete Ranke, die in ihren Händen sogleich zerfiel. Verzweifelt krallte sie ihre Finger in die Erde, doch sie fand nirgendwo Halt. Keine fünf Zentimeter konnte
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