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Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation

Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation

Titel: Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation
Autoren: Katrin Grunwald
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Beinstümpfe aus dem gleichen Stoff wie die schicke Trainingskombination, in die die Karins oder Trixis ab Fabrik gesteckt werden. Warum nennt man sie nicht mal Cheryl? Das klingt wenigstens nach Glitzer und Las Vegas. Im Prinzip braucht man ja nur den Brustkorb, um die richtige Druckstärke und -frequenz zu üben. Und manchmal auch den Mund, in dem Gummizähnchen stecken, die sich bereitwillig nach hinten biegen, wenn man auch noch Intubieren üben soll und einen Tubus dort hineinsteckt. Trotzdem drängt sich natürlich die Frage auf, warum man eine ganz akute Wiederbelebungssituation ausgerechnet an einer Attrappe üben soll, der bereits beide Beine fehlen. Viel Raum für ethische Diskurse ist in der Regel in solchen Kursen aber nicht vorhanden.
     
    Mich holt die Realität ein, und ich beende mein Gedankenspiel abrupt. Gerade kommt der Oberarzt herein und guckt sich die sinnlosen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen an. Der Vollbart weiß nicht mehr weiter, ich nicht, der Star auch nicht, und bevor mich der Vollbart bei der Herzdruckmassage ablöst, entscheiden wir relativ schnell, dass wir die Patientin jetzt in Frieden lassen. Wir überzeugen uns, dass die Narkose tief genug ist. Wir gucken nochmal in die Pupillen. Wir stehen vor dem Monitor und sehen Kurven und Zahlen, die man nicht mehr ertragen kann. Diese Zahlen kommen uns plötzlich hämisch und wichtigtuerisch vor – dieser ganze binäre Schund. Der Vollbart macht den unangenehmen Daueralarmton aus. Eine Null-Linie, durchbrochen von dem nun humpelnd rumpelnden Sound der IABP , ein paar kleinere Ausschläge, die allmählich abnehmen. Das Rumpeln stockt, es alarmiert unangenehm. Vorbei.
    Frau Kampe ist tot.
    Eine Zeitlang stehen wir einfach nur da. Wir gucken uns an, der Vollbart nickt und schreibt die Todesuhrzeit auf die Kurve. «Was für ein beschissener Start», flüstert der Star und streicht mir über den Rücken. Sonst sagt keiner etwas. Die Stille ist angenehm und unheimlich zugleich. Wir decken die Frau zu. Alle Geräte sind ausgeschaltet. Die Frau Schnabel hat sich hingelegt und schläft schon wieder. Die Meisen sind weggeflogen. Ich muss hier raus.
    Jetzt ist uns nicht mehr nach Herumkichern, und wir rauchen schweigend. Der Star muss in ihrem Bereich nach dem Rechten sehen, dazu ist sie in den letzten Stunden so gut wie gar nicht gekommen, und ich gehe wieder ins Zimmer und fange an, der Frau bemüht routiniert all die Kabel und Schläuche zu entfernen. Der Gedanke an den jederzeit wieder zurückkehrenden Mann sitzt mir im Nacken. Die Augen der toten Frau sind halb offen, ich fühle mich irgendwie beobachtet und schließe ihre Lider. Alles Routine, auch das dumpfe Gefühl im Magen, alles Routine.
    Der Star steht im Türrahmen: «Herr Kampe ist da.» Schluss mit dumpfen Gefühlen im Magen, her mit der Empathie, vor allem her mit dem Vollbart, der dem Mann erst mal schonend beibringen muss, dass uns seine Frau vor einer knappen Viertelstunde unter den Händen gestorben ist. Der Vollbart ist ganz routiniert, inklusive Magendumpfheit. Er empfängt den Mann, der das alles schon geahnt zu haben scheint. Herr Kampe zittert und sieht ziemlich verheult aus, hat sich bei seinen Freunden rechts und links untergehakt und wirkt plötzlich regelrecht gebrechlich. Er stellt die beiden Männer mit erstickter Stimme als Mitbewohner seiner Hausgemeinschaft vor. Schweigend geben sie dem Vollbart die Hand, und das dumpfe Gefühl macht einer Art Reißen im Herzen Platz, so kläglich wirkt das schockierte Trio. Der Vollbart hat ganz schmale Lippen, als er die drei in den Besprechungsraum geleitet. Plötzlich steht der Kardiochirurg neben mir im Zimmer, der die IABP ausbauen soll. Wir arbeiten schweigend, schnell und konzentriert, Draht raus, Druckverband, weg mit der Rumpelkiste. Hippo hilft mir ein frisches Laken einzuziehen, überall ist Blut und Desinfektionsmittel. Wir beziehen das Kopfkissen frisch, kämmen Frau Kampe die Haare und decken sie zu. Wäre da nicht die bläulich-graue Gesichtsfarbe, so könnte man denken, sie schliefe. Aus dem Besprechungszimmer hört man trotz verschlossener Tür lautes Weinen und Schluchzen. Der Vollbart kommt völlig fertig heraus und schnorrt mich um eine Zigarette an. Dann verschwindet er nach draußen. Jetzt geht er, als müsse er genau darauf achten, nicht zu stolpern.
    Die nächsten Herausforderungen stehen unmittelbar ins Haus. Die Begegnung mit dem am Boden zerstörten, trauernden Mann und seinen Freunden und das Herausfahren der
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