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Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation

Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation

Titel: Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation
Autoren: Katrin Grunwald
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würden wir den ganzen Tag nichts anderes machen, gucken ernst und professionell, als wir die verdeckte tote Frau am Wartebereich der Intensivstation vorbeifahren, wo natürlich wieder alle die Hälse recken. Nachdem wir an einer interessiert guckenden kleinen Menschentraube vorbeigefahren sind, die vor den Fahrstühlen wartet, sind wir froh, endlich in der Pathologie angekommen zu sein. Niemand spricht uns dort an. Wir hieven schweigend die Frau in das Kühlfach und haben es plötzlich doch eilig, wieder wegzukommen. Wie niederschmetternd, wenn man sieht, dass von einer menschlichen Existenz nichts anderes als ein paar Formulare übrig bleiben.
    Auf dem Rückweg kommen wir an der Kantine vorbei. Es sind ziemlich viele Menschen da, ganze Familien, die zusammen Kuchen essen, reden und lachen. Der Star und ich stellen uns vor, dass wir mit einiger Verzögerung zurück auf die Station kommen, etwa zwei bis drei Stunden, weil wir uns in der Kantine auf diesen Nachmittag erst mal anständig einen genehmigen müssen. Wir fragen uns, ob das wohl Stunk gäbe. Da es in der Kantine sowieso nur Kaffee und alkoholfreie Designer-Brause gibt, reißen wir uns zusammen und gehen zurück. Das war die qualvolle Verlängerung. Das Spiel ist fast aus.
    Ich decke Frau Schnabel zu und frage sie, ob sie denn nachher noch schlafen könne, wo sie doch schon fast den ganzen Nachmittag geschlafen habe. Sie lächelt und sagt: «Ach, aber das ist auch so herrlich ruhig hier bei Ihnen!», und ich muss grinsen.
     
    Es wird Abend und die Besucher gehen allmählich. Einige gucken doch tatsächlich nochmal in das Zimmer, in dem es vor einigen Stunden noch so dramatisch zuging. Liegt es am Fernsehen? Daran, dass es sich so gemütlich auf dem Sofa gruseln lässt, wenn in der Notaufnahme so richtig übel die Post abgeht? Weil man «das selbst nicht könnte», der Thrill, dabei zuzugucken, aber trotzdem immer wieder toll ist. Das Gute am TV ist, dass man nicht sofort als auf den Zehenspitzen stehender «Auch-mal-sehen»-Gaffer enttarnt wird. Man kann sogar sitzen bleiben und sich noch etwas zu trinken nehmen. In freier Wildbahn fällt das schon mal unangenehm auf. Ich frage mich, ob man das tatsächlich alles
Emergency Room
und George Clooney in die Schuhe schieben darf. Vielleicht haben die Leute aber schon vor der «Schwester-Stefanie-isierung» nicht mehr alle Latten am Zaun gehabt. Feierabend. Morgen werde ich mir ein Betäubungsgewehr kaufen. Für die Besuchszeit.
     
    Monate später lese ich einen Satz von Thomas Kling, und obwohl er damit die Auftritte des
Cabaret Voltaire
zu Anfang des 20. Jahrhunderts beschreibt, bringt er gleichzeitig und unwissentlich unsere Situation an diesem Nachmittag auf den Punkt. «Sie zeigten multimediale Events, die vom Publikum in jeweils knallvollen Sälen mit einer Melange aus Schauder der Verstörung und dem Endlich-mal-was-los-Gefühl goutiert wurden.»

[zur Inhaltsübersicht]
Bloody Sunday
    Ein Sonntag im Spätsommer. Man könnte jetzt prima mit dem Fahrrad über den Deich sausen und eine waghalsige Slalomfahrt um die x-beinig dahinstöckernden Inline-Skater und die Fahrrad fahrenden Ehepaare machen, die im Schritttempo umhergondeln, ohne umzukippen. Grundsätzlich fährt der Mann vor der Frau, quasi als Fährtensucher, und am Lenker keift aus dem Radio die Liveschaltung der Bundesliga. Der Mann bekäme gar nicht mit, wenn die Frau verschwinden würde. Wie viele Frauen verpassen täglich diese Chance!
    Die Pflicht ruft aber auch am Sonntag, und auf der Fahrt in die Klinik treffe ich ein solches Sonntagsfahrrad-Ehepaar an, sogar in der «De-luxe»-Edition: Beide tragen trotz der Wärme ballonseidene Freizeitanzüge im Partnerlook sowie Turnschuhe aus dem gut sortierten Sportfachhandel. Auch das Radio ist an. Perfekt.
    Einen Trost für den Spätdienst am Sonntag habe ich, denn ich bin nach der Arbeit mit einem Freund auf ein Feierabendbierchen verabredet und ahne noch nicht, dass ich an diesem Abend noch etwas ganz anderes brauchen werde als ein schnödes Pils. Vor mir liegt einer der ekelhaftesten Dienste meines Berufslebens.
     
    In frisches «Grünzeug» gekleidet betrete ich die Station; es herrscht eine geradezu unheimliche sonntägliche Gemütlichkeit. Es passiert selten, dass noch nicht mal alle Betten belegt sind, wahrscheinlich ist das Wetter dafür zu gut. Tatsächlich scheint es manchmal so, als würden die Leute die Behandlung ihrer «akuten» Beschwerden, die sie schon seit drei Wochen haben,
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