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Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation

Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation

Titel: Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation
Autoren: Katrin Grunwald
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Frau aus dem Zimmer in einen eigens dafür hergerichteten Raum, in dem die Angehörigen von der Toten Abschied nehmen können – vorbei an den Besuchern. Das ist die Krux. Zumindest für mich.
    Hippo äugt hinaus auf den Flur. «Die Luft ist rein», flüstert sie, «keiner da, komm schnell!» Es klingt nach der Durchführung eines von langer Hand geplanten Verbrechens. Wir legen ein Laken über die Tote und quälen uns mit dem Bett aus dem engen Zimmer und fahren den Flur entlang um die Kurve – und da kommen auch schon Besucher. Sie gucken auf unser Bett, machen große Augen und fragen, wo der Ausgang ist. Es ist nicht zu glauben, denn sie stehen direkt davor. Nur noch fünf Meter und sie wären draußen! Aber nein, die Schaulustigen ziehen es vor, noch ein paar Eindrücke für eine Gruselgeschichte mitzunehmen. «Die haben eine Leiche an uns vorbeigefahren, fürchterlich, ein schlimmer Beruf, ich könnte das nicht, blablabla …»
    «Da vorne», deute ich im Vorbeifahren, und dann biegen wir um die Haarnadelkurve des Trauerzimmers. Hippo zündet eine Kerze an, dann holt sie eine Flasche Wasser und Gläser. Ich gehe zum Besprechungsraum. Mit feuchten Händen öffne ich die Tür, und drei verweinte Gesichter blicken mich an. Was soll ich sagen? Oder tun? Mein Kopf ist leer, und mir ist warm. Ich will hier weg. Alle stehen sie wie durch ein unausgesprochenes Kommando auf, der Mann sagt nichts, er fällt mir einfach weinend um den Hals und schluchzt so herzzerreißend, dass ich plötzlich einen entsetzlich dicken Kloß in der Kehle bemerke und um meine Contenance fürchte. Wo soll ich mit meinen Armen hin? Seine Fassung unter größter Anstrengung zurückerlangend, stellt sich der Mann wieder halbwegs gerade hin. Ich versuche, ein paar einigermaßen sinnvolle Sätze an dem Kloß im Hals vorbeizuwürgen. Es geht auch, aber das Ganze ist so furchtbar, dass ich nur das Nötigste schaffe. Ich sage, dass wir seine Frau in einen ruhigeren Raum gefahren haben, in dem er mit seinen Freunden in Ruhe bei ihr sitzen kann. Alle nicken schweigend und folgen mir. Ich muss mich bremsen, nicht zu schnell zu gehen. Es riecht nach Kerzen im Trauerraum; es muss entsetzlich sein, da hineinzugehen und zu erkennen, dass es das jetzt war mit dem Leben zu zweit, denn da liegt die Frau, die man geliebt hat, man liebt sie immer noch, aber sie ist einfach weg und tot. Eine Scheidung wäre ein Klacks dagegen. Es muss der blanke Horror sein.
    Der Ehemann sinkt wie ein nasser Sack auf einen der Stühle. Sein Mitbewohner flüstert mir leise zu, dass gleich noch zwei weitere Freunde des Mannes kämen, ob das in Ordnung sei. Ich nicke, schließe die Schiebetür hinter den dreien und gehe zurück, im Rücken das Weinen.
     
    Hippo hat inzwischen mit dem Star den Bettplatz wieder auf Vordermann gebracht, der ja nun frei ist und jederzeit wieder belegt werden könnte. Der Vollbart macht Papierkram und ist sichtlich betroffen; wir sind alle erstaunt von diesem rasend schnellen und üblen Verlauf. Die Frau, die der Star rückwärts zur Tür hinausgeschoben hat, kommt mit ihrem Mann vorbei und guckt uns grantig an.
     
    Zum Trost und um mir das Gefühl zu geben, dass ich mich nach dem Urlaub nicht völlig umsonst hierher gequält habe, schaue ich nach Frau Schnabel. Sie ist noch schläfrig, findet aber Gefallen an der Idee, nochmal auf der Bettkante zu sitzen, um ein Käsebrot zu essen. Sie ist noch ein wenig zitterig und putzt sich etwas umständlich die Zähne, danach sitzt sie wie eine alte Katze mit gekrümmtem Rücken vor mir und lässt sich den Rücken einreiben. Dazu macht sie genießerisch brummende Geräusche. Ich beruhige mich allmählich.
    Der Mann und seine Freunde gehen schließlich nach etwa einer Stunde. Sie verabschieden sich alle mit Handschlag bei mir und dem Vollbart. Beklommen sehen wir ihnen hinterher, wie sie wie betäubt durch die automatische Stationstür verschwinden. Einer von ihnen trägt den Plastikbeutel, in dem die Schuhe der Frau stecken, ihre Jeans und das T-Shirt. «Was macht man dann bloß damit», frage ich mich, würge den Gedanken aber schnell wieder ab, weil mir nichts anderes als «wegwerfen» einfällt.
     
    Trotz des abnehmenden Besucherstroms sind der Star und ich uns nicht ganz sicher, ob wir es ohne unerwünschte Zuschauer unbehelligt in die Pathologie schaffen. Der Raum wird gebraucht, auf dem Nachbartrakt ist auch jemand gestorben, und ein Stau vor dem Trauerzimmer macht ein schlechtes Bild. Wir tun so, als
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