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Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation

Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation

Titel: Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation
Autoren: Katrin Grunwald
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freut, den Vollbart. Der Vollbart hat eigentlich stets eine gute Grundstimmung, aber angesichts der Situation, die er hier vorfindet, ist sie quasi auf dem Nullpunkt. Es ist zwar sehr beruhigend, dass man uns heute eine übermotivierte Heißdüse erspart, aber der Vollbart guckt nicht so, als würde er sich freuen. Er spricht mit Frau Anzug ab, dass er die Visite noch eben schnell zu Ende macht, dann wird leise die Lage geschildert, gemurmelt, abgewägt, geplant, überlegt und weitergemacht wie bisher. Der Tross zieht weiter in Gefilde, in denen die Lage mehr verspricht und guter Rat nicht allzu teuer ist.
     
    Schlagartig fällt mir Frau Schnabel aus dem benachbarten Bett ein! Die habe ich komplett vergessen. Hippo auch, sie ist so fasziniert von allem, was um sie herum geschieht, dass sie das Einzige, um das sie sich kümmern sollte, vergessen hat. Sie ist genauso Zuschauerin, und um mir die brennende Frage zu beantworten, was von einer Schwesternschülerin zu erwarten ist, bin ich zu gestresst, das muss warten. Ich stelle aber mit Erstaunen fest, dass die Frau schläft. Sie schläft! In dem ganzen Getümmel, Geklapper und Gerenne schläft die Frau einfach. Ich werde blass vor Neid.
    Kurzfristig scheinen sich unsere Bemühungen zu lohnen. Das Herz von Frau Kampe schlägt einigermaßen regelmäßig, sie hat sogar einen akzeptablen Blutdruck. Kein großes Wunder bei diesen horrenden Katecholamin-Dosen, die einer pharmakologischen Dauerreanimation gleichkommen. Trotzdem freuen wir uns über die kurzfristig überraschende Wendung und finden Zeit, einmal tief durchzuatmen.
    Der Star und ich gucken uns an, wir gucken Frau Anzug an und sie guckt uns an, wir starren irgendwie gegenseitig durch uns hindurch und bemerken erst jetzt so richtig, dass wir völlig im Eimer sind. Frau Anzug atmet acht Liter Luft auf einmal ein und wieder aus und fährt sich durch die wirren Haare. Jede scheint zu überlegen, was sie jetzt sagen könnte, denn offenbar ist allen diese Ruhe unheimlich.
    Der Star und ich beschließen, der Frau schnell ein Hemd überzulegen und ein bisschen Ordnung zu schaffen, solange sie einigermaßen stabil ist, ihr Mann wartet draußen, keine Ahnung, wie lange schon. Wir wollen es nicht schlimmer aussehen lassen, als es ohnehin schon ist. Als würde das die Lage verbessern. Während der Star also in Windeseile die Mülleimer ausleert und Hippo ein Hemd holen lässt, wasche ich der Frau das Gesicht und schicke mich an, endlich auch mal die Pupillen zu kontrollieren. «Scheiße, guck mal», sage ich zum Star, und wir sehen zwei geweitete und entrundete Pupillen. Frau Kampe ist im Grunde tot. Hippo kommt mit dem Hemd rein und sagt tatsächlich «Oh, ich will auch mal gucken», verheddert sich prompt mit den Füßen in den am Boden liegenden Kabeln der IABP und fällt fast ins Bett. Nach all dem Gedrängel und Gegaffe auf dem Flur ist sie der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Der Star hat plötzlich eine sehr rosige Gesichtsfarbe und böse glitzernde Augen. Ich atme tief durch. «Pass auf», richte ich mühsam beherrscht das Wort an Hippo, «das ist kein Show-Event. Diese Frau stirbt gerade und ihr Mann wird gleich reinkommen. Wenn du das nicht begreifen kannst, dann geh bitte raus und hilf den anderen.» Hippo schluckt trocken und piepst ein leises «Okay!». Fast tut sie mir leid, aber irgendwann ist es auch mal gut.
    Schweigend legen wir das Hemd über den bläulichen und beatmeten Körper und fragen uns, was das alles noch soll. Und wohin das führt, obwohl wir das eigentlich wissen. Eine Pause – von mir aus auch ohne Bier – wäre gut, aber es geht weiter, denn Frau Anzug kommt und fragt, ob der Mann zu seiner Frau könne, sie würde gleich mit ihm sprechen. Wir erzählen ihr vom Blick in die Pupillen der Patientin. «Ja, das geht hier nicht gut, ich weiß,» sagt sie erschöpft. In ihrer Haut möchte ich jetzt nicht stecken, solche schlimmen Nachrichten den Angehörigen zu überbringen ist einfach eine grässliche Aufgabe.
    Ich gehe los, um den Ehemann aus dem Wartebereich abzuholen. Immer noch gleicht der Gang über den Flur einem Spießrutenlauf, als ich zur Stationstür gehe und den Mann aufrufe.
    «Wo liegt denn Frau Müller?»
    «Können wir einen Arzt sprechen?»
    Herr Kampe sitzt wachsbleich auf einer Sesselkante und taumelt, als er aufspringt. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, während wir nebeneinander über den Stationsflur Richtung Zimmer gehen, jeder Satz klingt doch jetzt total
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