Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schwester der Toten

Schwester der Toten

Titel: Schwester der Toten
Autoren: Marcel Feige
Vom Netzwerk:
fragte sie einige Fischer, die gelangweilt den Strom der Pilger beobachteten, nach dem Weg. Von ihnen erfuhr sie, dass das Haus ihrer Tante ein Stück außerhalb des eigentlichen Dorfes lag. Sie musste noch einmal eine Viertelstunde laufen, bis sie es endlich erreichte. Neben den mächtigen Tannen, die es umgaben, wirkte es winzig, wie die meisten der steinbewehrten Cottages in der Umgebung. Mit einem Wort: gemütlich.
    Als sie den Vorgarten durch eine niedrige Holztür betrat, sprang ihr ein Bobtail mit hängender Zunge entgegen. Sein dichtes grauweißes Fell war durchnässt vom vielen Herumtollen im Regen. Er schüttelte sich, und an seinem Halsband klingelte ein neckisches Glöckchen. Sie zog sich die Handschuhe aus, er schleckte ihre Finger ab, und sie lachte, weil es auf der Haut kitzelte. Er bellte, weil er glaubte, sie wolle mit ihm spielen. Als sie seiner Aufforderung nicht nachkam, machte er einen Satz und rannte quer durch den Garten. Ihr fiel auf, wie liebevoll und gepflegt die Sträucher und Beete waren, selbst zu der kalten Jahreszeit blühten Zaubernussstrauch, Winterjasmin und Winterheide.
    Kurz darauf kehrte der Hund mit einem zernagten Ast zurück und legte ihn vor ihren Füßen ab. Nun wirf schon, bettelte sein Blick.
    »Du solltest werfen«, hörte Beatrice eine Stimme.
    In der Haustür stand die Frau, deren Foto ihr Paul in London gezeigt hatte. Meine Tante Angela-Marie. Seit der Aufnahme mussten viele Jahre vergangen sein, aber die Zeit hatte ihr nichts anhaben können. Vielleicht war das Seeklima dafür verantwortlich.
    Zwar fehlten Angela-Marie die tiefen Falten im Gesicht und die dunklen Ringe unter den Augen, aber die Ähnlichkeit mit der Frau, der Beatrice auf den Straßen Londons gegenübergestanden hatte, war verblüffend. Vielleicht waren sie Schwestern. Ganz bestimmt sogar. Sie würde diese…
    Der Hund kläffte, richtete sich auf seinen Hinterbeinen auf und legte ihr die Vorderpfoten auf die Schulter. Seine raue Zunge fuhr ihr über die Wangen.
    »Ich sagte doch, du solltest den Stock werfen«, tadelte ihre Tante. Es war nicht böse gemeint. Ihre Stimme war warm, ganz anders als das Wetter. »Buck kann ansonsten sehr ungemütlich werden.« Sie lächelte vertraut, was irgendwie seltsam war, da Beatrice sie nicht kannte. Falsch, besann sie sich schnell. Du kennst sie. Du erkennst sie nur nicht. Sie erwiderte das Lächeln und sagte: »Ich werde es überleben.«
    Mit dem Handrücken wischte sie sich das Gesicht. Sie stieß den Rüden mit einem beherzten Schubser von sich, bückte sich nach dem Ast und warf ihn in das Feld auf der anderen Straßenseite. Buck schoss mit wehendem Schweif durch den Nieselregen. Er war eine Ausbund an Energie, und Beatrice schloss ihn auf Anhieb ins Herz.
    »Beatrice«, flüsterte ihre Tante. Sie war in den Vorgarten getreten, der Regen glättete ihre braunen Locken, durch die erste graue Strähnen zogen, und klebte ihr das Kleid an den Körper.
    Für einen Moment existierten nur sie beide auf dieser Welt. Das ist also die Frau, bei der ich aufgewachsen bin. Unsicher sagte Beatrice: »Tante…«
    »Bitte nicht«, wehrte diese ab. »Du hast mich ›Angela‹ genannt. Einfach nur: Angela.«
    »Angela«, wiederholte Beatrice. Es war das erste Mal seit ihrer Abreise in London, dass sie den Namen laut aussprach. Sie hatte gestern mit ihrer Tante telefoniert, in wenigen Worten von der Amnesie erzählt.
    »Komm ruhig vorbei. Ich freue mich«, hatte Angela erwidert. »Ein Besuch in Lindisfarne wird dir helfen.« Doch nun, da sie hier war und ihrer Tante gegenüberstand, passierte nichts. Alles blieb verwirrend. Nur um sich zu vergewissern, sagte sie noch einmal: »Angela.«
    Nichts. Nicht einmal der Hauch einer Erinnerung. Sie fühlte die Enttäuschung in sich aufsteigen. Angela legte ihr die Hand auf die Schulter. Sanft sagte sie: »Es tut mir Leid, was passiert ist.«
    »Du kannst nichts dafür«, antwortete Beatrice.
    »Und dein schönes Haar…«, bedauerte Angela.
    Beatrice zuckte die Achseln. »Mein kleinstes Problem.« Sie bemühte sich, sich nicht von den Erinnerungen an das, was geschehen war, fortreißen zu lassen, versuchte sich an einem Scherz. »Sieh«, meinte sie und rieb sich mit der Hand über die Glatze, »schon ist der Kopf trocken.«
    Angela lachte, bevor ihr Blick einen leicht vorwurfsvollen Ausdruck annahm. »Du solltest deinen Freund anrufen.«
    »Paul?«, fragte Beatrice mit düsterem Blick.
    »Er hat bereits zweimal angerufen und wollte wissen,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher