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Schwester der Toten

Schwester der Toten

Titel: Schwester der Toten
Autoren: Marcel Feige
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kullerten in den Höhlen, »ich finde die Busfahrt enervierend, wenn Sie verstehen was ich meine?«
    Beatrice verstand nicht, was sie meinte, und schwieg. Offenbar reichte dies als Antwort. »Langweilig!«, erklärte die Dame ungefragt und schüttelte sich, als ekelte sie sich vor dem Wort. Ihr Dutt drohte seinen Halt zu verlieren. »Ich fahre jetzt seit dreißig Jahren regelmäßig an die Küste. Ich komme aus Glasgow, müssen Sie wissen. Zweimal im Jahr mache ich mich auf den Weg ans Meer, nach Bamburgh Castle. Das ist fast so etwas wie eine Tradition. Früher hat mein Mann mich begleitet, damals sind wir auch mit dem Auto gefahren. Seit er verstorben ist…«, sie imitierte ein Schluchzen, »… nehme ich den Bus. Aber Sie müssen wissen, dieses Nichtstun im Bus, die Landschaft zieht fortwährend an einem vorbei, niemand spricht mit einem, das ist so…«, sie schnaufte noch einmal, lauter diesmal, »… langweilig!«
    Beatrice antwortete mit einem Achselzucken und schaute an ihr vorbei aus dem Busfenster. Die Fahrt durch Northumberland war keineswegs enervierend.
    Die Küstenlandschaft an der englisch-schottischen Grenze war offen und weit und trotz der Wintertrübe – vielleicht aber auch gerade deshalb – von betörender Schönheit. Immer wieder tauchten am Straßenrand halb verfallene Farmen und Cottages auf, ab und an erhoben sich sogar die Überreste einer Burg aus dem Graugrün von ausgedehnten Moorlandschaften und kargen Feldern: Zeugnisse einer fast vergessenen Vergangenheit.
    Sie hörte ihre Sitznachbarin unzufrieden in den Damenbart brummein, dann schien sie wieder eingeschlafen zu sein. Ein gutturales Schnarchen entrang sich ihrer Kehle, das an das Blöcken von Schafen erinnerte. Beatrice musste schmunzeln.
    Lindisfarne Castle rückte in ihr Blickfeld, majestätisch auf einem steil ansteigenden Hügel thronend. Als der Bus über einen holprigen Heideweg eine Anhöhe nahm, tauchten die wogenden Wellen der Nordsee am Horizont auf. Das Dorf Lindisfarne lag auf einer Insel.
    Der Blick auf die Küste war überwältigend. Beatrice war gefangen von der glitzernden Macht des Meeres, wie es sich an die Insel schmiegte und sie gleichzeitig von der übrigen Welt abschirmte. Das Schloss ragte vor dem Horizont empor und blickte erhaben auf den Rest der Welt hinab. Wenn ich hier aufgewachsen bin, sagte sie sich, dann war ich ein glücklicher Mensch.
    Mit diesem Gedanken wurde ihr abrupt der Anlass ihrer Reise bewusst. Ein Schatten legte sich über ihr Gesicht. Verstohlen sah sie zu der schnarchenden alten Dame auf dem Nebensitz, die so unbefangen von ihrer Vergangenheit erzählt hatte. Was hätte ich ihr antworten sollen? Dass mir meine Vergangenheit gestohlen wurde?
    Gut möglich, dass sie die Strecke nach Lindisfarne viele Male zurückgelegt hatte. Heute reiste sie durch ein neues Land voller Geheimnisse. Unweigerlich dachte sie an das verstörende Erlebnis in Bexhall. Auch die Prozession der Kinder, die sie in London erlebt hatte, fiel ihr ein. Als sie jetzt durch die Glasscheibe aufs Meer hinausblickte, kam sie sich beim Anblick der jahrhundertealten Burg furchtbar klein und verletzlich vor.
     
     
    Als sie an der Haltestelle in Beal aus dem Bus stieg, war sie noch immer anderthalb Meilen von der Insel entfernt – und sollte es noch weitere drei Stunden bleiben. Zweimal täglich verschluckt die Nordseeflut die unbefestigte Straße, die auf die heilige Insel führt.
    Als der Pfad durch das Watt endlich sichtbar wurde, verlor Beatrice sich in den Menschengruppen, die die Dünen hinabstiegen und den Schlick betraten. Ihre Schuhe versanken in angespültem Tang. Kinder alberten herum, wo vor kurzer Zeit noch Wellen und Meer getobt hatten. Jetzt war das Land zurückgekehrt, der nackte Grund, auf dem alles ruhte, das Fundament der Insel. Beatrice’ Vergangenheit. Sie lag bloß und offen vor ihr, eine Vergangenheit aus Gras und Dünen, Klippen und Hügeln. Sie mochte diese Gegend, aber ein Gefühl von Vertrautheit wollte sich nicht einstellen.
    Sie schulterte ihren Rucksack und setzte sich mit zügigen Schritten in Bewegung, trotzte dem Wind, der mit kalter Stimme zur Umkehr drängte. Sie überholte eine Pilgergruppe, die murmelnd in ein Gebet versunken war. Auf halbem Weg setzte Nieselregen ein. Schnee war an der Küste selten. Sie atmete tief durch, sog die salzige Meeresluft in ihre Lungen und glaubte zu spüren, wie die Anspannung in ihrem Kopf sich löste, ein angenehmes Gefühl.
    Auf der Insel angekommen,
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