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Schwester der Toten

Schwester der Toten

Titel: Schwester der Toten
Autoren: Marcel Feige
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Welt, die jeden Tag ein bisschen mehr einstürzte.
    Er setzte sich in Bewegung, suchte Ablenkung, indem er eine Runde lief, doch nach zehn Sekunden war er wieder am Ausgangspunkt angelangt. »Was zum Teufel geschieht mit mir?«
    Auch wenn die Zelle noch kleiner war, sie erinnerte ihn an seine Wohnung. Manchmal hatte er die Winzigkeit des Kreuzberger Wohnklos gehasst. Jetzt sehnte er sich danach. Gerne hätte er die Uhr zurückgedreht. Die Welt hätte wieder ihre Ordnung gehabt: Philip seinen Job, seine Freundin und an den Wochenenden viel Spaß in den Clubs der Stadt. Doch damit war es vorbei. Es sah nicht danach aus, als würde er je in sein altes Leben zurückkehren können.
    Nur eine Frage der Zeit, bis man ihn als Mörder unter Anklage stellte, daran würde auch ein Pflichtverteidiger nichts ändern. Und seine Fähigkeiten erst recht nicht. Du bist im Besitz einer wunderbaren Gabe, hatte Hanussen gesagt. Oder war es ein Fluch?
    »Scheiße!«, brüllte er und versetzte der Pritsche mit der säuberlich geschichteten Decke einen Tritt. Die Ordnung störte ihn, machte ihn rasend vor Wut. »Scheiße, Scheiße, Scheiße!« Auch wenn sein Fuß unter dem Schmerz protestierte, er trat noch einmal nach. Es schepperte und rasselte laut. Die Dissonanz der Geräusche klang in seinen Ohren wie Musik, die seinen Gemütszustand treffend untermalte.
    »Bist du bescheuert, oder was?«, knirschte eine Stimme in Philips Nacken. Eine Hand legte sich auf seine Schulter und ließ ihn unwillkürlich zusammenschrecken. War es nur die Überraschung, oder war es mehr? Genauer konnte er das Gefühl nicht bestimmen, zu sehr lähmte ihn die Präsenz des anderen. Und als ging es nur darum, seinen inneren Zwiespalt noch einmal zu verschlimmern, wurde ihm in dieser Sekunde bewusst, mit einer Klarheit, die ihn selbst überrumpelte, dass er tatsächlich über Fähigkeiten verfügte; Fähigkeiten, deren bloße Möglichkeit er bis vor kurzem mit aller Entschiedenheit abgestritten hätte. Fortan würden sie Bestandteil seines Lebens sein, ob er wollte oder nicht.
    Angewidert wand er sich unter der unheimlichen Berührung hinweg. Er machte einen Satz nach vorne, kam nicht weit, denn da versperrte die Zellenwand ihm den Weg. Zögerlich drehte er sich um, wappnete sich einmal mehr für das Allerschlimmste.
     
     
    Berlin
     
    Wie an jedem Tag war die Morgenandacht das Schlimmste. Es gelang ihm kaum, sich aus dem Bett zu erheben. Nicht weil er zu dieser Zeit noch müde gewesen wäre. Frühes Aufstehen machte ihm nichts aus, nicht seit seiner Kindheit auf dem Brandenburger Land, als er seinen Eltern bei der Bestellung der Felder hatte helfen müssen.
    Früh aufgestanden war er Zeit seines Lebens, doch neuerdings waren die ersten Minuten nach dem Erwachen seine Arme und Beine taub. Nutzlos hingen die Glieder an seinem Rumpf, und es blieb ihm keine andere Wahl, als darauf zu warten, dass das Leben in sie zurückfloss. Jeden Morgen schien es ein wenig länger zu dauern, und die Angst wuchs, der Tag, an dem er vergeblich warten würde, könnte gekommen sein.
    Das Ankleiden war ebenso eine Tortur. Denn mit dem Leben kehrten auch die Schmerzen in seine Extremitäten zurück. Mit einem Wort: Arthrose. Er konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern, wie sein Leben die vielen Jahre zuvor ohne gewesen war, so lange beherrschte die Krankheit bereits seine Gelenke. Sie protestierten gegen jede Bewegung. Die Finger verweigerten sich der Befehle, ließen immer wieder Kleidungsstücke zu Boden fallen, obwohl er krampfhaft darum bemüht war, sie festzuhalten.
    Endlich in der Küche, war ihm vor lauter Schmerzen, Verzweiflung und auch Wut längst der Appetit vergangen, und er eilte ohne ein Frühstück hinüber in die Kirche. Der kalte Wind fegte den Schnee unter seine Soutane. Die Schmerzwellen zwangen ihn auch während der Frühmesse immer wieder zu einer kurzen Pause. Warum unterwarf ihn Gott einer solchen Prüfung?
    Während er aus der Bibel las – er kannte den Text fast auswendig –, ließ er seinen Blick durch das Kirchenschiff schweifen. Das Geld der Pfarrgemeinde war knapp, und der Putz blätterte an manchen Stellen von der Wand.
    Nur wenige Leute waren zur Morgenandacht gekommen.
    Er hatte nichts anderes erwartet. Der Stadtbezirk Neu-Kölln war längst in der Hand der Muslime, seine katholische Kirchengemeinde St. Clara das letzte Bollwerk gegen den neuen Glauben. Es sah ganz danach aus, dass es schon bald zusammenbrechen würde.
    In den hinteren Bänken
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