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Schwemmholz

Schwemmholz

Titel: Schwemmholz
Autoren: Ulrich Ritzel
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und setzte das Blaulicht auf das Dach.
    Vom Gehsteig aus konnte Berndorf die Frau sehen. Vera ging mit festen, ruhigen Schritten auf den Karlsplatz zu. Berndorf versuchte, ihr zu folgen. Er nahm seinen Stock zu Hilfe, aber Vera war trotzdem etwas zu schnell für ihn.
     
    Auf der Bank vor dem Freiluftschach saß der Mann mit dem Gesicht, in dem die Augenbrauen fehlten. Wieder trug er eine tief heruntergezogene Wollmütze und Handschuhe. Vera hatte ihn schon gestern hier gesehen, als sie das Haus mit den Erkern aus Stahl und Glas beobachtet hatte.
    Sie überquerte die Straße und blieb vor der Glasfront stehen, die sich über einem Sockel aus Marmor erhob. Aus der Plastiktüte holte sie die Spraydose, die sie gekauft hatte,
schraubte den Deckel ab und begann, langsam und bedächtig große karmesinrote Striche auf die Glasfront zu sprühen — erst von unten nach oben, dann schräg nach unten und wieder schräg nach oben, und zuletzt gerade nach unten. Es wurde etwas krakelig. Sie beschloss, den nächsten Buchstaben oval und zügig, aus einer Bewegung heraus, aufzubringen. Dann würde sie zwei knappe scharfe Striche auf das Oval setzen.
    Hinter ihr kamen zwei Frauen aus dem Gebäude gelaufen und schrien auf sie ein. Vera drehte sich um und richtete die Spraydose auf die Frauen. Kreischend wichen sie zurück.
    Schwierig war der nächste Buchstabe. Vera sprühte eine gerade Linie nach oben, schlug dann einen Halbkreis und schloss mit einem Schrägstrich ab. Das Nächste war wieder ein gerader Strich von unten nach oben, dem sich ein diesmal großer Halbkreis anschloss.
    Auf der Straße hielt ein Wagen. Vera warf einen Blick zur Seite. Der Wagen war ein Taxi. Jemand stieg aus, die Wagentür schlug zu, und eine Stimme schrie: »Sind Sie verrückt geworden?« Es war die Stimme eines Mannes, Vera glaubte, sie zu erkennen. Der nächste Buchstabe war eine rechteckige linke Klammer, unten von rechts nach links, dann nach oben, und dort wieder nach rechts. Sie setzte den Mittelstrich. Dann war der Mann hinter ihr und packte sie an der Schulter. Vera riss sich los, drehte sich blitzschnell um und sprühte dem Mann eine Ladung Karmesinrot ins Gesicht.
    Der nächste Buchstabe war wieder ein gerader Strich mit kleinem Halbkreis und abschließendem Schrägstrich.
    Vera trat zurück und betrachtete die Inschrift. Man konnte es gut lesen, und die Wahrheit war es auch. Hinter ihr schrien noch immer Leute. Sie drehte sich um. Welf stand zwei oder drei Meter von ihr entfernt und versuchte, sich die Farbe vom Gesicht zu wischen. Er stellte sich nicht sehr geschickt an, weil er einen Arm in der Schlinge trug. Eine Frau versuchte, ihm zu helfen und verschmierte sich dabei selbst.
    Immer wollen die Frauen helfen, dachte Vera. Kein Wunder, dass es ihnen dann die Bluse versaut.

    Von der Grünanlage her kam der Mann mit der Wollmütze über die Straße. Er ging schleppend und trug einen Matchsack in der linken Hand. Dann blieb er stehen, griff mit der rechten Hand in den Sack und holte einen kurzen dicken Stock hervor. Der Mann wird ihn schlagen, dachte Vera. Auch recht. Ich bin also nicht die Einzige.
    Der Mann ließ den Matchsack fallen, hob den Stock hoch und richtete ihn auf Welf. Erst jetzt sah Vera, dass es doch kein Stock war. Es war ein Jagdgewehr mit zwei kurzen Läufen. Sie waren so kurz, dass sie jemand abgesägt haben musste. Die Frau, die sich um Welf bemühte, kreischte auf und rannte davon.
    Plötzlich hatte Vera das Gefühl, als falle sie zusammen. Was ich gemacht habe, zählt nicht. Ein bisschen karmesinrote Farbe, nichts weiter. Der Mann stand noch immer vor Welf und zielte auf ihn. Vera hatte das Gefühl, als sei die Zeit stehen geblieben.
    Berndorf hatte lange genug zugesehen. Er trat neben Antonio Casaroli und drückte die Lupara nach unten. »Das da ist mein Wolf.« Dann nahm er das Gewehr an sich. Das ging so leicht, als ob er es aus den Händen eines Kindes nehme.
    Mit quietschenden Reifen hielt Kuttlers Audi vor dem Firmenportal. Berndorf legte eine Hand auf Casarolis Arm und sagte, er solle nach Hause gehen. Dann schaute er zu Vera. »Haben Sie gehört? Gehen auch Sie. Was hier zu tun ist, geht nur noch Herrn Welf und uns etwas an. Gehen Sie weg von hier.«
     
    Das Augenlid des Kriminalrats Englin zuckte kurz. »Sie meinen, dieser Fall, oder alle diese Fälle seien jetzt geklärt?«
    »Soweit ich es beurteilen kann: ja«, antwortete Berndorf. »Desarts hat mir jedenfalls zugesagt, dass er Haftbefehl gegen Welf
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