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Schwemmholz

Schwemmholz

Titel: Schwemmholz
Autoren: Ulrich Ritzel
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der anderen einen weißen Tuchfetzen. »Hier!« Er hob es hoch und breitete den Fetzen zierlich mit Daumen und Zeigefinger der beiden Hände zur Besichtigung aus.
    »Ein Damentaschentuch«, meinte Tamar.
    »Nein«, sagte Berndorf. »Eben nicht für Damen. Ein Einstecktuch. Ein ungewöhnlich albernes Requisit aus Zeiten, von denen Sie — danken Sie Gott dafür! — nichts mehr mitbekommen haben. Der wohlgekleidete Herr trug es zu Krawatte und Nyltest-Hemd. Dass ein junger Mann sich heute so etwas antut, verstehe, wer mag.« Er drehte das Tuch um und betrachtete es. »Wenn diese Stickerei hier nicht ›HS‹ heißen soll, fresse ich den Rettungsring auf.« Er hielt das Tuch Tamar hin.
    Das Tuch war nass und zerdrückt. Aber die Stickerei war deutlich zu erkennen. »Es ist sozusagen Sanders Visitenkarte«, fuhr Berndorf fort. »Es muss aus der Brusttasche gerutscht sein und hat sich in dem Tau verfangen, das sich oben auf dem Schlauchboot befindet. Passiert ist das, als sie Sanders Leiche irgendwo vor Langenargen im See versenkt haben.«
    »Und warum ist ihnen das Tuch nicht aufgefallen?«
    »Das Tuch hing dort, wo das Tau durch eine der Halterungen läuft. Das Tau wird dabei durch eine Plastikschürze geschützt. Sie werden gedacht haben, dass es zu der Schürze gehört.«
    »Und diese sie — das sind Rodek, Judith und Welf?«
    »Vermutlich nur Rodek und Judith«, antwortete Berndorf. »Das ist keine Arbeit für den Firmenchef. Er wird steif und fest behaupten, dass er von all dem nichts gewusst hat. Dass er das Opfer finsterer Machenschaften ist. Und weil es sein Sohn ist, den diese Frau entführt hat, wird man ihm womöglich auch noch glauben.« Er äugte verdrossen in den Steingutbecher. »Habt ihr mir noch einen Schluck Tee mit Kirschgeist oder von mir aus und zur Not einen Kirsch ohne Tee?«

Donnerstag, 3. Juni
    Die Fluten schlugen über ihm zusammen. Schwarze, erdrückende Wassermassen. Hoch über der schwarzen Flut tutete Baden-Württembergs Wasserschutzpolizei durch das Sturmgebraus. In letzter Not griff Berndorf nach schwarzem, glattem Schwemmholz.
    »Guten Morgen«, klang eine unverschämt klare Stimme durch das Telefon. »Ich fürchtete schon, du wärst schon wieder sonst wo bei irgendwelchen fürchterlichen Leichen.«
    »Es hat nicht viel gefehlt«, brachte Berndorf heraus, »und ich wäre selbst eine fürchterliche Leiche. Aufgedunsen. Und demnächst von hungrigen Hechten angefressen.
    Es stocket sein Herz, es sträubt sich sein Haar,
    dicht hinter ihm grinst noch die grause Gefahr.
    So ungefähr geht’s mir.«
    »Was redest du da? Und mit was für einer Stimme?«
    »Deutsches Gedichtgut. Gustav Schwab. Der Reiter und der Bodensee. Und die Stimme ist eine verschnupfte. Eine, die gestern zu viel Wasser abbekommen hat. Eher im als auf dem Bodensee.« Energisch verlangte Barbara nähere Auskunft. Berndorf bemühte sich, alles in der gehörigen Reihenfolge zu berichten. »Die Welfs haben ihr Kind zurück, sie werden sich den Fotografen stellen können, die Familie des prominenten Ulmer Architekten und Unternehmers nun wieder glücklich vereint, wer redet noch von Mördern? Der eine ist tot und in der Pathologie, die andere ertrunken oder vielleicht doch über alle sieben Schweizer Berge . . .«

    »Das alles kann nicht dein Ernst sein«, unterbrach ihn Barbara.
    »Ist es auch nicht«, erwiderte Berndorf. »Ein wenig werden wir das allseitige Glück noch stören müssen, das ist wahr, Kuttler hat die Briefe gefunden, die Sander an Welf geschrieben hat, das heißt, es sind die elektronischen Kopien davon, Welf wird da noch einige Fragen beantworten müssen . . .«
    »Sander hat Welf erpresst?«
    »Ich glaube, er wollte mehr«, antwortete Berndorf. »Er wollte seine ganz private, persönliche Rache. Welf sollte keine Ruhe mehr haben, und um ihm die Hölle heiß zu machen, hat er sich den Anschein eines Erpressers gegeben.«
    »Und das hat ihm das Leben gekostet?«
    »Das hat ihm das Leben gekostet. Wir werden heute Morgen zu Welf gehen und ihm die Ausdrucke der Briefe zeigen«, sagte Berndorf müde. »Er wird sie lesen und die Brille abnehmen und uns treuherzig in die Augen schauen und erklären, jawohl, solche Briefe habe er bekommen, er habe uns doch die ganze Zeit gesagt, dass er erpresst werde, ob wir uns nicht erinnern könnten? Nur sei er die ganze Zeit überzeugt gewesen, dass Rodek und Judith die Drahtzieher gewesen seien, und deswegen habe er auch angenommen, dass sie diese Briefe geschrieben
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