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Schwarzer Mittwoch

Schwarzer Mittwoch

Titel: Schwarzer Mittwoch
Autoren: Nicci French
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Rolle. Thelma Scott saß dort, wo eigentlich Frieda hingehört hätte, während Frieda so tat, als wäre sie eine Patientin. Thelma Scott betrachtete sie mit freundlicher, mitfühlender Miene – einem Gesichtsausdruck, der besagte, dass es keinerlei Druck gab: Alles durfte ausgesprochen werden, alles war erlaubt. Frieda kannte diesen Gesichtsausdruck, weil sie ihn selbst auch immer einsetzte. Sie fand es fast ein wenig peinlich, dass Thelma ihn an ihr ausprobierte. Glaubte sie wirklich, sie würde ihr so leicht auf den Leim gehen?
    Frieda blickte sich um. Ihr eigenes Sprechzimmer hatte sie bewusst nüchtern gestaltet, in neutralen Farben und mit einigen wenigen Bildern, ausgewählt unter dem Aspekt, dass sie keine konkreten Signale aussandten. Beim Praxisraum von Thelma Scott verhielt sich das völlig anders. Die Tapete war wild gemustert, ein Gewirr aus blauen und grünen Ranken, zwischen denen hier und da ein Vogel saß. Auf jedem freien Fleckchen drängte sich Nippes, lauter nutzloser Schnickschnack: winzige Glasflaschen, Porzellanfigürchen, eine kleine Glasvase mit rosaroten und gelben Rosen, Pillendöschen, Porzellantässchen, ein paar Miniaturteller mit Feldblumenmuster. Allerdings konnte Frieda nichts Privates entdecken – nichts, das etwas über Thelma Scotts Leben oder Persönlichkeit verriet, mal abgesehen von der Tatsache, dass sie ein Mensch war, der Nippes mochte. Frieda hasste solch kleinen Krimskrams, sie empfand ihn als störenden Plunder. Am liebsten hätte sie das ganze Zeug in einen Müllsack gefegt und weggeworfen.
    Thelma betrachtete sie immer noch mit diesem gütigen, offenen Gesichtsausdruck. Frieda wusste, wie es war, so dazusitzen und auf jenen ersten Schritt zu warten, der den Beginn der Reise markierte. So manches Mal hatte Frieda die vollen fünfzig Minuten auf ihrem Platz gesessen, ohne dass der betreffende Patient auch nur ein einziges Wort sagte. Manchmal weinten die Leute auch nur.
    Warum saß sie nun hier? Was gab es eigentlich noch zu besprechen? Sie war das alles schon so oft durchgegangen – all die Entscheidungen, die sie getroffen, all die Wege, die sie eingeschlagen oder nicht eingeschlagen hatte –, meist um zwei, drei, vier Uhr morgens, wenn sie mal wieder nicht schlafen konnte. Aufgrund ihres Eingreifens war Russell Lennox’ Versuch, seinen Sohn zu schützen, gescheitert und Ted jetzt in Untersuchungshaft. Die Vorstellung, dass er ins Gefängnis musste und Schlimmes durchmachte, war schrecklich, aber er hatte schließlich auch eine schreckliche Gewalttat begangen, deren Opfer noch dazu seine eigene Mutter gewesen war. Seine einzige Hoffnung bestand darin, dass er zu seiner Tat stand und sich den Folgen stellte. Vielleicht ließ das Justizsystem ja Gnade walten. Mit der richtigen Verteidigung blieb ihm eine Verurteilung wegen Mordes unter Umständen sogar erspart.
    Manche würden vielleicht die Meinung vertreten, Ted hätte eine größere Chance gehabt, wenn er auf freiem Fuß geblieben wäre. Menschliche Wesen besitzen die Fähigkeit zu überleben, indem sie die Vergangenheit verdrängen und zu vergessen versuchen. Womöglich hätte Ted seine eigene Art gefunden, damit umzugehen. Aber Frieda konnte das nicht so recht glauben. Man musste sich der Wahrheit stellen, wie schmerzhaft sie auch sein mochte, und danach sein Leben weiterführen. Die Wahrheit zu begraben ließ sie nicht sterben. Irgendwann scharrte sie sich doch aus der Erde und holte einen wieder ein. Oder war das nur eine persönliche Sichtweise, und Ted zahlte nun den Preis?
    Und zahlten auch Dora und Judith den Preis? Der Gedanke an die beiden rief ihr die Beerdigung ins Gedächtnis, die zwei Tage zuvor stattgefunden hatte. Von der Musik, den Gedichten und den Hunderten von Trauergästen hatte sie kaum etwas mitbekommen. Das Einzige, was sie von ihrem Platz ganz weit hinten wahrgenommen hatte, waren die beiden Mädchen gewesen, links und rechts von ihrer grimmigen, tugendhaften Tante. Beide hatten sich anlässlich der Beerdigung die Haare schneiden lassen: Dora trug jetzt einen strengen Pony, und Judiths wilde Locken waren kurz geschnitten. Die Mädchen wirkten niedergeschlagen, völlig am Ende. Judith hatte Frieda entdeckt. Ihre bemerkenswerten Augen waren einen Moment aufgeblitzt, dann hatte sie sich abgewandt.
    Die Wahrheit. Jim Fearby hatte sie zu seinem Lebensinhalt gemacht und dafür alles andere geopfert: seine Familie, seine Karriere und am Ende sogar sein Leben. War ihm in jenem letzten Moment, als
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