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Schwaben-Herbst

Schwaben-Herbst

Titel: Schwaben-Herbst
Autoren: Klaus Wanninger
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dass es schmerzte, spurtete direkt auf die Wegbiegung zu. Ein breites landwirtschaftliches Gefährt versperrte ihr die Sicht. Der Fahrer des Traktors, ein wohlbeleibter Landwirt, war mitten auf dem Weg stehen geblieben, starrte gebannt auf die an ihm vorbei hastenden Gestalten. Neundorf passierte den laut tuckernden Schlepper, trat hinter dem mit zwei breiten Bottichen beladenen Anhänger vor, blieb auf der Stelle stehen. Der asphaltierte Weg führte scharf nach rechts, eine schmale Klinge umrundend, die, von Weinreben bewachsen, etwa zehn Meter in die Tiefe und auf der anderen Seite genauso steil wieder hoch führte. Sie sah die Person auf der anderen Seite der Einkerbung stehen, die Waffe schussbereit in der Rechten, genau auf ihren Kollegen zielend, glaubte, ihr Herzschlag wolle aussetzen. Keine fünf Meter unterhalb riss es Braig von den Beinen, hingestreckt von einer Ansammlung überreifer Trauben, direkt in die Schussbahn der auf ihn zielenden Gestalt. Neundorf reagierte im Bruchteil einer Sekunde, riss die Beine auseinander, suchte festen Halt, drückte ab, zweimal hintereinander.

14.
    Die Dämmerung war längst hereingebrochen. Myriaden von kleinen Mücken tanzten um die hellen Strahler, deren gleißendes Licht die Umgebung ausleuchtete. Dr. Kai Dolde, erst seit wenigen Monaten im Team der LKA-Techniker und gemeinsam mit Helmut Rössle und Lars Rauleder mit der Untersuchung der beiden Tatorte in Strümpfelbachs Weinbergen beschäftigt, hatte den makabren Sachverhalt als Erster entdeckt.
    »Das darf nicht wahr sein. Die hatte keinerlei Munition mehr. Keine einzige Kugel in der Waffe.«
    »Wie bitte?«, hatte Neundorf entgeistert gefragt. »Die hatte keine …?« Sie war verstummt, hatte mit vor Entsetzen bleicher Miene auf ihren Kollegen gezeigt. »Aber die war doch gerade dabei, auf Steffen zu zielen. Die hatte angelegt, wollte abdrücken. Da fehlten nur noch Zehntelsekunden. Hätte ich nicht geschossen …« Sie hatte Kopf schüttelnd auf den Techniker gestarrt, darauf gewartet, dass er seine Aussage widerrief. »Sag, dass das nicht wahr ist!«
    »Tut mir leid«, hatte der junge Mann erwidert. »Die Waffe war leer. Aber das bedeutet doch nicht, dass Sie sich deswegen Vorwürfe machen müssen.«
    Fünf Minuten vorher hatte der Gerichtsmediziner Dr. Schäffler sowohl den Tod Mark Söders als auch den Ulrike Maiers amtlich bestätigt. Er hatte der Frau die Gesichtsmaske samt der Perücke abgezogen, sie anhand ihres Personalausweises identifiziert.
    »Aber ich hätte doch nicht geschossen, wenn …«, hatte Neundorf beharrt.
    Braig, immer noch erschöpft von der anstrengenden Verfolgung und dem Schock über das erneute Verbrechen, war zu seiner Kollegin getreten, hatte sie in den Arm genommen. »Verdammt, jetzt gib endlich Ruhe. Du hast mir das Leben gerettet. Ohne dich wäre ich jetzt nicht mehr da.«
    »Eben nicht«, hatte sie erwidert. »Ich habe eine wehrlose Frau erschossen.«
    Sie war am Rand des steilen Weinberghangs zusammengesunken, hatte hemmungslos geweint. Minuten später war Dolde auf das zusammengefaltete Dokument in der Hosentasche der Toten gestoßen. Er hatte es vorsichtig geglättet, den in einer überaus korrekten und sauberen Handschrift aufs Papier gebrachten Text gelesen und photographiert, ihn dann persönlich Neundorf übergeben.
    »Bitte, lesen Sie diese Zeilen. Ich hoffe, sie helfen Ihnen.«
    Sie hatte Dolde angestarrt, dann das Blatt an sich genommen und damit angefangen, es zu lesen.
    »Es ist gut, dass es zu Ende ist. Ich hoffe jedenfalls, dass es soweit ist, wenn Sie dies lesen. Mein Plan, zu einem Ende zu kommen, hat dann hoffentlich geklappt. Sie werden wissen, wie ich es bewerkstelligt habe. Sie sollten sich keine Vorwürfe machen, Sie trifft keine Schuld.
    Diejenigen, die mein Elend zu verantworten haben, gibt es nicht mehr. Sie haben gebüßt, einer wie der andere. Es ging nicht anders, ich musste es tun. Mein Leben war zerstört, es hatte keinen Sinn mehr. Jene Nacht im vergangenen Herbst, die ich nie vergessen werde, hat ihn mir genommen. Ich muss mich bei Achim entschuldigen, verzeih mir, du hast alles versucht, aber du wirst dir nie vorstellen können, wie grauenvoll diese Nacht für mich war.
    Dabei hatte alles so friedlich begonnen. Von früh bis spät Herbsten bei blauem Himmel und voller Sonne, Schwarzriesling-Trauben an diesem Tag. Wir wollten den Abend gemütlich ausklingen lassen in der kleinen Weinberghütte, keine hundert Meter von dem Hang entfernt, in dem wir
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