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Schwaben-Herbst

Schwaben-Herbst

Titel: Schwaben-Herbst
Autoren: Klaus Wanninger
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der Kirchturm ragte. Neundorf kam nur langsam voran; unzählige Anhänger voller Bottiche und Trauben waren auf beiden Seiten des Wegs geparkt, Scharen arbeitender Menschen unterwegs.
    »Wie sieht es mit der Qualität aus?«, fragte Braig.
    »Sehr gut«, antwortete die Frau. »Der warme Frühsommer hat uns sehr geholfen.« Sie bat Neundorf, nach rechts abzubiegen, entschuldigte sich. »Das ist jetzt zwar nicht die Richtung der Hütte, aber wir sind gleich da. Ich will nur schnell das Wasser abliefern.«
    Sie fuhren um die Ecke, hatten einen ganzen Pulk am Wegrand abgestellter landwirtschaftlicher Gefährte vor sich. Scharen traubenschleppender Männer und Frauen kamen von allen Seiten her mit müden Gesichtern auf sie zu.
    »Hier sind wir«, erklärte Melanie Rober.
    Neundorf bremste den Wagen ab, ließ die Frau aussteigen, half ihr gemeinsam mit Braig, die Kisten ins Freie zu hieven.
    »Wasser«, rief Melanie Rober laut. Sie nahm eine der Kisten, stellte sie neben der Ladefläche des vordersten Anhängers ab, trug die andere dann in dieselbe Richtung. »Wasser«, wiederholte sie laut.
    Braig sah, wie zwei Männer ihre von Trauben überquellenden Körbe absetzten und zu den Wasserflaschen eilten. »Das war Rettung in höchster Not«, meinte er.
    Die Frau nickte, zeigte nach Norden. »Die Hütte ist dort, vielleicht dreihundert Meter entfernt.«
    »Wir gehen zu Fuß?«
    Melanie Rober nickte. »Wenn Sie wollen, gern. Den Wingert hoch.«
    Er ließ der Frau den Vortritt, wartete, bis Neundorf den Wagen abgeschlossen hatte, eilte dann den steilen Hang zwischen den Reben hoch. Dicke blaue Trauben hingen an den Stöcken, würziges Aroma erfüllte die Luft.
    »Muskat-Trollinger«, meinte die Weinbäuerin um Atem ringend.
     
    Sie erreichten die nächst höhere Serpentine des asphaltierten Weges, stießen auf eine Gruppe Spaziergänger, die mit immer neuen Beifallsbekundungen ihre Begeisterung über die Schönheit der Landschaft zum Ausdruck brachten. Braig folgte dem Fingerzeig eines der Männer, hörte dessen Hinweis Lobenrot, hielt die Hand über die Augen, um sich vor den Strahlen der tief stehenden Sonne zu schützen, sah den kleinen Ort auf dem Berg jenseits des Tales liegen. Zwei, drei Dutzend Häuser, Wiesen und Felder, von dichtem Wald überragt. Rings um ihn herum das goldgelbe Herbstlaub der Weinstöcke, unten in der Senke das langgezogene Dorf. Schwärme winziger Mücken tanzten über dem Boden, zwitschernde Vögel labten sich an den übrig gebliebenen Früchten der Reben. Ruhe und Frieden lagen über der Landschaft, ein fast schon überirdischer Zauber hatte die Welt hier inmitten der Weinberge am Rand des Remstals erfasst.
    In diesem Moment peitschten die Schüsse durch die Luft, zerrissen die Stille, jagten Braig jäh aus seinen Gedanken. Zwei schrecklich laute, alles Besinnen auf Ruhe und Frieden zerberstende Schüsse.

12.
    Er hatte die Touristengruppe schon von weitem durch die Weinberge laufen sehen. Entweder eine Busladung voller Nachmittagsausflügler, die hierher gekarrt worden waren, um im erstbesten Café ihre Geldbeutel zu leeren und anschließend noch etwas frische Luft zu schnappen oder Gäste des nahen Hotels, die sich vor dem Abendessen noch etwas Appetit anlaufen wollten. Mit überschwänglichen Bemerkungen ihre Begeisterung über den Anblick der Umgebung bekundend kamen sie auf ihn zu.
    Er setzte sein Fernglas ab, betrachtete die Spaziergänger. Allesamt Menschen jenseits der Lebensmitte. Wie der Ausflug eines Altenheims, überlegte er, ich bin der Einzige unter Dreißig weit und breit. Er sah mitten in der Gruppe einen Mann in eine Zeitung vertieft daherschlendern. Der eifrige Leser schien etwas entdeckt zu haben, was ihn besonders interessierte; er sah auf, reichte seinem Nachbarn das Blatt, wies auf einen Artikel. Der andere folgte seinem Fingerzeig, starrte auf die Zeitung, schüttelte dann den Kopf. Er sah, wie der Mann stehen blieb, wieder einen aus der Gruppe mit dem Blatt traktierte, dann in die Umgebung zeigte, auf eine Antwort des anderen wartend, doch nur unentschlossenes Schulterzucken erntete.
    Langsam verschwanden die Spaziergänger aus seinem Blickfeld, nur der interessierte Zeitungsleser blieb zurück. Er hatte noch zwei weitere Mitglieder seiner Gruppe, zwei ältere Damen, um Rat gebeten, war jedoch, seiner Reaktion nach, ohne befriedigende Antwort geblieben. Langsam trottete er weiter, den Blick in seine Zeitung versenkt, nur noch wenige Schritte von ihm entfernt. Sechzig, oder
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