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Schulterwurf

Schulterwurf

Titel: Schulterwurf
Autoren: Andreas Schlueter , Irene Margil
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können. Linh musste also nicht nur zusehen, Yuuto nicht aus den
     Augen zu verlieren und dabei selbst unentdecktzu bleiben, sondern auch noch höllisch aufpassen, wohin sie trat.
    Yuuto schien sich überraschend gut auszukennen und wusste offenbar genau, wohin er wollte. Doch er schien sehr darauf bedacht,
     genau das zu verbergen. Alle paar Meter drehte er sich um, ob er nicht beobachtet oder verfolgt wurde. Linh musste sich wie
     eine echte Detektivin ständig verstecken. Jetzt kauerte sie hinter einem parkenden Wagen und stellte erstaunt fest, dass der
     Großmeister in eine kleine Seitenstraße abbog, die zum Friedhof führte.
    Kurz vor dem Eingang schaute sich Yamada Yuuto noch mal in alle Richtungen um und betrat dann das Friedhofsgelände.
    In halb gebückter Haltung hastete Linh hinterher. Sie hockte sich hinter einen großen Grabstein, von dem aus sie den Großmeister
     gut sehen konnte, befürchtete aber, ihn über kurz oder lang in dem Labyrinth der Grabstätten zu verlieren. Keine Frage, sie
     brauchte Verstärkung. Gern hätte sie Ilka angerufen. Aber ihr Handy steckte in ihrer Jeans. Und die hing am Garderobenhaken
     in der Turnhalle.
    Vielleicht konnte sie jemanden . . .? Schon entdecktesie einen Jungen, etwa zwei Jahre älter als sie selbst, der mit seinen Eltern recht gelangweilt über den Friedhof stiefelte.
    Linh machte sich zischend bemerkbar: »Psst!«
    Der Junge reagierte nicht.
    »Psssssst!«, wiederholte Linh.
    Jetzt blieb er stehen und sah sich um.
    »Pssssssssst! Psssssst!«
    Linh kam halb hinter dem Grabstein hervor und winkte den Jungen zu sich. Der konnte es gar nicht glauben, tippte sich mit
     dem Zeigefinger auf die Brust und fragte mit stummem Blick, ob er gemeint war.
    Linh nickte und winkte heftig.
    Der Junge schaute kurz zu seinen Eltern, die einige Meter vor ihm gingen und ihren Sohn im Moment nicht beachteten, und lief
     auf Linh zu. Die zog ihn sofort hinter den Grabstein, warf noch rasch einen Blick nach dem Großmeister, der sich nun seltsamerweise
     gar nicht mehr weiterbewegte.
    »Hast du ein Handy?«, fragte Linh den Jungen.
    »Natürlich! Wieso?«
    »Darf ich mal telefonieren?«
    »Spinnst du? Weißt du, was das kostet? Wieso willst du mit meinem Handy telefonieren?«
    Linh zeigte an sich herunter. »Ich muss meine Eltern anrufen.«
    »Wieso bist du denn überhaupt barfuß und im Judoanzug hier?«
    »Gute Frage«, gab Linh zu. »Leider kann ich dir das jetzt nicht erklären. Also, was ist: Kann ich oder nicht?«
    Der Junge überlegte kurz, dann hatte er sich entschieden: »Okay, aber nur ganz kurz. Ich hab nicht mehr viel Geld auf der
     Karte! Und meine Eltern . . .«
    »Super. Du bist echt nett!«
    Und schon hielt Linh das Handy des Jungen in der Hand und tippte eilig Ilkas Nummer. Schnell erklärte sie Ilka, warum sie
     dringend Hilfe bräuchte und wo sie sich befand.
    »Eingang West oder Ost, welcher Bereich?«, fragte Ilka nur, und dann: »Wir sind schon unterwegs!«
    »Ach, und noch etwas!«, fiel Linh ein. »Kannst du meine Schuhe mitbringen?«
    Der Junge sah sie mit großen Augen an.
    »Danke!«, sagte Linh und gab dem Jungen das Handy zurück.
    » Das
waren deine Eltern?«
    Linh lächelte ihn an und zuckte mit den Schultern.»Man kann sich seine Eltern nicht aussuchen. Deine suchen dich übrigens schon.«
    Der Junge sah sich erschrocken um. Weit vorne, schon fast auf der Höhe des Großmeisters, standen seine Eltern und verrenkten
     sich die Hälse auf der Suche nach ihrem Sohn. Ohne sich weiter zu verabschieden, düste er los, was Linh nur recht war.
    Noch immer stand Yamada Yuuto am selben Fleck. Linh schaute sich um. Sie befanden sich in einem Bereich des Friedhofes, in
     dem die Gräber erst in den letzten Monaten und Wochen eingerichtet worden waren. Vor einem dieser Gräber stand der Großmeister
     nun schon seit geraumer Zeit. Und vielleicht, so hoffte Linh, blieb er noch so lange dort stehen, bis ihre Freunde kamen.
    Yamada Yuuto schien andächtig zu beten. Das Grab war das einzige weit und breit, das nicht mit Blumen oder Kränzen geschmückt
     worden war. Keine weißen Bänder mit letzten Worten an den Verstorbenen, kein einziger Gruß eines Hinterbliebenen. Dort konnte
     nur jemand begraben sein, der sehr einsam gelebt hatte, ohne Familie oder Freunde und Bekannte.
    Irgendwann verbeugte Yamada Yuuto sich vor dem Grab und ging drum herum. Er untersuchtedie Grabumrandung, die Rückseite des Holzkreuzes und sogar den Boden direkt neben dem Grab. Er schien
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