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Schule versagt

Schule versagt

Titel: Schule versagt
Autoren: Inge Faltin , Daniel Faltin
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Tragik lag darin, dass sie selbst zu ihrem Stress beitrugen. Sie tappten in die Falle der Kodependenz, machten sich von äußeren Umständen abhängig und gaben ihre Wahlfreiheit auf. Und diese Wahl kann eben auch bedeuten, nicht unnötig zu kämpfen. Ich habe es oft erlebt, dass aggressive Schüler sich zurückzogen, wenn ihre Angriffe auf mich abprallten, ich einfach nicht wie gewünscht ärgerlich oder wütend reagierte, sondern gelassen und freundlich bleibend Sechsen für ihre Schlechtleistungen in ihr Notenportfolio eintrug, in einigen wenigen Fällen sogar so lange, bis sie um ihre Versetzung fürchten mussten und erst dann ihr Verhalten drastisch änderten. Selbstverständlich darf man dann in keiner Weise nachtragend sein, sondern sollte sofort wieder alle Türen für eine gute Lehrer-Schüler-Beziehung, für gute Noten und die Förderung der Stärken öffnen. Das versteht sich von selbst und ist Teil der Win-win-Strategie und des Selbstverständnisses als Lehrer.
    7.   Sich überflüssig machen!
    Am Ende des Wachstumsprozesses steht, dass man als Lehrer und als Autorität überflüssig geworden ist. Die Schüler sind selbstständig geworden; sie können ihren ganz individuellen Weg gehen. Nach ihrem Examen waren meine Schüler im wahrsten Sinne des Wortes frei; sie flogen aus, sie brauchten mich nicht mehr. Es war schön, das zu spüren. Ich weiß noch, dass mir bei der Examensfeier spontan die Verse Khalil Gibrans durch den Kopf gingen: »Deine Kinder sind nicht deine Kinder. Sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selbst   … Du bist der Bogen, von dem deine Kinder als lebende Pfeile ausgeschickt werden.« Obwohlich meine Schüler sicher zu keinem Zeitpunkt unserer Zusammenarbeit als »meine Kinder« angesehen hatte, schien mir die Grundaussage des Gedichts auch auf die Lehrer-Schüler-Beziehung zuzutreffen. Ich hatte versucht, Mentor zu sein und sie für ihren eigenen Weg vorzubereiten. Gehen mussten sie ihn selbst.
    Der autonome Mensch, unabhängig, fähig zur »Freiheit zu« im positivsten Sinn und zur Interdependenz, ist das Ziel des Lern- und des Entwicklungsprozesses in der Schule. Interdependenz meint nicht nur die Fähigkeit, mit anderen zu kommunizieren, sondern generell als Menschen im gegenseitigen Respekt miteinander umzugehen und den anderen zu antworten, durch Zuhören, durch Verstehen, durch Gewinn-Gewinn-Denken, durch die eigene Integrität. Die Rolle des Lehrers in diesem Prozess ist, »Servant Leadership« 7 zu praktizieren. Dieser Begriff drückt zweierlei aus: einmal die Bereitschaft zu führen, Mentor und »leitende Kraft« zu sein, und gleichzeitig dem Wachstumsprozess der Schüler zu dienen. Die Voraussetzungen dafür und den Weg dahin habe ich versucht, in den vorausgegangenen Thesen zu beschreiben: die Entwicklung und die Authentizität der eigenen (Lehrer-)Persönlichkeit; die Akzeptanz und das Ausüben der Vorbildfunktion; die Inspiration zum Entdecken ihres genuinen Selbst und ihres inneren Potenzials für möglichst viele Schüler; die Förderung proaktiven Schülerhandelns als Self Directed Learning und als Finden der eigenen Identität, indem man aus dem Weg geht. Und das bedeutet, zur rationalen Autorität zu werden. Das ist die Basis für den Weg zum Ziel und für die Erreichung des Ziels. »Die rationale Autorität zielt auf Wachstum und Entfaltung der Individualität ab« 8 und verkörpert das Gegenteil des autoritären Charakters. Sie hat eine »Überflussmentalität« in jeder Hinsicht, also fachlich und menschlich. Sie gibt, und sie gibt gern und reichlich, denn sie gründet sich auf eigenes Wohlbefinden und Lebensbejahung, ohne sich bevormunden oder ausbeuten zu lassen. Es ist klar, dass diese Zieldefinition und das daraus resultierende Lehrerhandeln sich erheblich von dem unterscheiden, was heute häufig Wirklichkeit in der Schule ist. Ein neues Paradigma ist nötig, ganzheitlich strukturiert, die gesamte Persönlichkeit umfassend und auf das neue Zeitalter der Informations- und Wissensgesellschaft ausgerichtet. Die Verlockung ist groß. Ich habe es selbst erlebt. Esgibt kaum einen Beruf, in dem man eine größere Befriedigung finden kann als den des Lehrers   – allerdings nur, wenn man ihn in diesem vollkommen neuen Sinn versteht und lebt. Man erlebt sich tatsächlich als »tätiges und schöpferisches Individuum und erkennt, dass das Leben nur den einen Sinn hat: den Vollzug des Lebens selbst« 9 . Das ist die Durchdringung der
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