Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schuldig

Schuldig

Titel: Schuldig
Autoren: Jodi Picoult
Vom Netzwerk:
»Na?«, sagte Laura. »Wie war das?«
    Â»Endlos«, rief eine Studentin.
    Â»Was meinen Sie, wie lange es gedauert hat?«
    Allgemeines Rätseln: Zwei Minuten? Fünf?
    Â»Genau sechzig Sekunden«, sagte Laura. »Und jetzt stellen Sie sich vor, Sie wären für alle Ewigkeit von der Taille abwärts in einem Eissee eingefroren. Stellen Sie sich vor, schon die kleinste Bewegung würde die Tränen auf Ihrem Gesicht und das Wasser um Sie herum gefrieren lassen. Für Dante war Gott vor allem Bewegung und Energie, daher ist die Höchststrafe für Luzifer die, sich nicht mehr bewegen zu können. Ganz unten in der Hölle gibt es kein Feuer, keinen Schwefel, nur die völlige Unfähigkeit zu handeln.« Sie ließ den Blick über das Meer aus Gesichtern gleiten. »Hat Dante recht? Immerhin handelt es sich hier um die tiefste Tiefe des Höllenlochs, und der Teufel ist der Schlimmste von allen. Können Sie sich eine heftigere Strafe vorstellen, als jemandem die Möglichkeit zu nehmen zu tun, was er tun will, wann immer ihm danach ist?«
    Und das umriss, warum Laura Dantes Inferno liebte. Gewiss, man konnte es als eine Abhandlung über Religion oder Politik lesen. Zweifellos handelte es auch von Erlösung. Aber wenn man sich auf das Allerwesentlichste konzentrierte, ging es vor allem um einen Menschen, der tief in einer Krise steckte, einen Menschen, der die Entscheidungen hinterfragte, die er im Laufe seines Lebens getroffen hatte.
    Ganz ähnlich wie Laura.

    Während Daniel Stone mit dem Auto in der langen Schlange stand, die sich Richtung Highschool schob, schielte er zu der Fremden auf dem Beifahrersitz hinüber und versuchte sich zu erinnern, wann sie mal seine Tochter gewesen war.
    Â»Furchtbarer Verkehr heute«, sagte er zu Trixie, nur um die Leere zwischen ihnen zu füllen.
    Trixie antwortete nicht. Sie machte sich am Radio zu schaffen, ließ eine Sinfonie aus statischem Rauschen und Bruchstücken von Songs erklingen, ehe sie es ganz ausschaltete. Das rote Haar fiel ihr über die Schulter wie eine blutige Woge. Über ihre Hände hatte sie die Ärmel ihrer North-Face-Jacke gezogen. Sie wandte sich ab und starrte aus dem Fenster, hing tausend Gedanken nach, von denen Daniel auch nicht einen erraten konnte.
    In letzter Zeit schien es, als wären die Worte zwischen ihnen nur noch dazu da, das Schweigen zu betonen. Daniel wusste besser als jeder andere, dass man sich im Moment eines Wimpernschlags selbst neu erfinden konnte. Er wusste, dass der Mensch, der man gestern noch war, nicht unbedingt der Mensch sein musste, der man morgen sein würde. Aber diesmal war er es, der nicht loslassen, sondern festhalten wollte, was er hatte.
    Â» Dad «, sagte sie und schaute nach vorn, wo der Wagen vor ihnen sich in Bewegung gesetzt hatte.
    Natürlich war es eine Illusion, aber Daniel war davon ausgegangen, dass er und Trixie von der üblichen Entfremdung zwischen Teenagern und ihren Eltern verschont bleiben würden. Schließlich hatten sie eine ganz andere Beziehung, enger als zwischen den meisten Töchtern und ihren Vätern, schon allein deshalb, weil sie jeden Tag zu ihm nach Hause kam. Er hatte mit väterlicher Sorgfalt über sie gewacht, hatte ihre Kulturtasche, ihren Nachttisch, ihre Schreibtischschubladen und andere mögliche Verstecke durchsucht – keine Drogen, keine Kondome. Trixie entwuchs ihm einfach nur, und irgendwie war das fast noch schlimmer.
    Jahrelang war sie auf den Flügeln ihrer eigenen Geschichten ins Haus geschwebt: dass ein unachtsamer Junge dem Schmetterling, den sie in der Klasse hegten und pflegten, einen Fühler abgerissen hatte. Dass es mittags in der Schule Pizza gegeben hatte, obwohl auf dem Plan Hühnchen Chow Mein gestanden hatte, und dass sie, wenn sie das gewusst hätte, auch lieber Pizza genommen hätte, anstatt ihren Lunch selbst mitzubringen. Es hatte so viele unbefangene Gespräche zwischen ihnen gegeben, und Daniel musste zugeben, dass er dann und wann einfach nur genickt hatte, ohne richtig hinzuhören. Damals war ihm nicht klar gewesen, dass er die Geschichten hätte horten müssen, wie die Stücke Seeglas, die er in der Tasche seiner Winterjacke aufbewahrte, damit sie ihn daran erinnerten, dass einmal Sommer gewesen war.
    Seit September – und auch das war absehbar gewesen – hatte Trixie ihren ersten Freund. Daniel hatte sich die verrücktesten Sachen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher