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Schuldig

Schuldig

Titel: Schuldig
Autoren: Jodi Picoult
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schlüpfen, der schon so oft gewaschen worden war, dass er sich weich anfühlte wie ein Rosenblütenblatt. Sie sehnte sich danach, in den vollen Kühlschrank zu schauen, sich an einem Song im Radio sattzuhören, das Shampoo ihres Vaters zu riechen und über die Teppichkante in der Diele zu stolpern. Sie wollte wieder zurück – nicht bloß nach Maine, sondern zum Anfang des Septembers.
    Trixie spürte die Tränen in ihrer Kehle aufsteigen, und sie wollte nicht, dass irgendwer das merkte. Also legte sie sich auf die Strohmatte, fast Nase an Nase mit Juno. »Weißt du«, flüsterte sie, »ich bin auch mal zurückgelassen worden.«
    Ihr Vater wusste nicht, dass sie sich an den Tag vor der Faneuil Hall erinnerte, aber sie tat es – manchmal zu den seltsamsten Zeiten. Zum Beispiel, als sie im Sommer an den Strand gefahren waren und sie das Meer roch. Da bekam sie auf einmal fast keine Luft mehr. Oder ihr wurde plötzlich schlecht bei Hockeyspielen oder im Kino oder an anderen Orten, wo sich viele Menschen drängten. Trixie erinnerte sich auch daran, dass sie den Buggy vor der Faneuil Hall einfach stehen gelassen hatten – ihr Vater hatte sie auf dem Arm zurück ins Hotel getragen. Und als sie nach ihrer Rückkehr nach Hause einen neuen Buggy gekauft hatten, weigerte Trixie sich, darin zu sitzen.
    Aber an eines erinnerte sie sich nicht, nämlich wie sie an jenem Tag in Boston überhaupt verloren gegangen war. Trixie hatte keine Erinnerung daran, wie sie aus dem Buggy geklettert war und sich durch das aufgewühlte Meer aus Beinen bewegt hatte. Sie wusste noch, dass sie einen Mann auf einer Bank gesehen und gehofft hatte, er könnte ihr Vater sein, doch er entpuppte sich als eine sitzende Statue. Trixie war zu der Bank gegangen, und als sie sich neben den Mann setzte, merkte sie, dass seine Metallhaut warm war von der Sonne, die den ganzen Tag daraufgeschienen hatte. Sie hatte sich an die Statue geschmiegt und sich mit jedem zittrigen Atemzug gewünscht, gefunden zu werden.
    Diesmal hatte sie genau davor die meiste Angst.



1
    Laura Stone wusste genau, wie man in die Hölle kam.
    Auf Cocktailpartys der Fakultät konnte sie die Geografie der Hölle auf Servietten malen. Sie war in der Lage, sämtliche Gänge und Flüsse und Windungen aufzuzählen. Mit den dort wohnenden Sündern war sie bestens vertraut. Als eine der renommiertesten Dante-Forscherinnen des Landes bot sie, seit sie am Monroe College lehrte, regelmäßig Seminare über dieses Thema an. Ihre Veranstaltung mit dem Titel »Burn Baby Burn (oder: Was zum Teufel ist das Inferno?)« zählte zu den beliebtesten Lehrveranstaltungen der Fakultät, obwohl Dantes Göttliche Komödie nun wirklich alles andere als lustig war. Ganz ähnlich wie die Werke ihres Mannes Daniel, die sich auch nicht eindeutig als Comic, Buch oder Unterhaltung klassifizieren ließen, deckte das Inferno alle Bereiche der Popkultur ab: Liebe, Horror, Mystery, Verbrechen. Und wie bei allen wirklich guten Geschichten stand im Mittelpunkt ein ganz normaler, alltäglicher Held, der sich selbst nicht erklären konnte, wie er je zum Helden geworden war.
    Laura musterte die Studenten, die still in ihren Reihen saßen. »Nicht bewegen«, befahl sie plötzlich. »Kein Mucks, von niemandem.« Neben ihr auf dem Pult lief eine Eieruhr eine volle Minute lang. Sie unterdrückte ein Schmunzeln, während sie ihre Schützlinge beobachtete, die plötzlich alle unbedingt niesen mussten oder den Drang verspürten, sich am Kopf zu kratzen oder ihre Sitzhaltung zu ändern.
    Das Inferno , einer der drei Teile von Dantes Meisterwerk, war Lauras Lieblingsstoff. Wer war besser geeignet, über das Wesen von Handlungen und deren Konsequenzen nachzudenken, als junge Leute? Die Geschichte war einfach: Im Verlauf von drei Tagen – Karfreitag bis Ostersonntag – durchschritt Dante die neun Höllenkreise, wobei jeder mit noch schlimmeren Sündern gefüllt war als der jeweils vorhergehende, bis er schließlich die andere Seite erreichte. Das Gedicht war voller Tiraden und Klagen und Dämonen, zerstrittener Liebender und Verräter, die das Gehirn ihrer Opfer aßen – anders ausgedrückt, es war drastisch genug, um heutige Collegestudenten zu fesseln … und sie selbst, die Dozentin, von ihrem realen Leben abzulenken.
    Die Eieruhr summte, und das ganze Seminar atmete auf.
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