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Schützenkönig

Schützenkönig

Titel: Schützenkönig
Autoren: Katrin Jäger
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zurück in die unterste Schublade des Gefrierschranks.
    Dann ging sie nach oben. Mit ganz leichten Schritten.
    Sie musste die Dusche ein paar Minuten laufen lassen, bevor das Wasser richtig heiß wurde. Genug Zeit, ihren Rock und die Bluse in die Waschmaschine zu legen. Schonwaschgang, dreißig Grad, die Trommel begann sich zu drehen.
    Sie stieg in die Duschwanne, ließ sich das heiße Wasser über das Gesicht und die Haare laufen. Alles wird sauber, dachte sie, alles wird neu. Sie schloss die Augen, genoss die Hitze, die ihren ganzen Körper erfüllte. Als sie ihre eingeschäumten Haare auswusch, dachte sie noch einmal kurz an die Locken von Tim Möcke.
    Dann trocknete sie sich ab, föhnte sich und zog den langen roten Rock mit der schwarzen Wickelbluse an. Ich bin eine Schützenkönigin, dachte sie und lachte ihr Spiegelbild an.
    Martha trat neben Viktoria.
    Sie ist so dünn, dachte Viktoria. Wie ein Gespenst. Ein Geist, der Schuldgefühle erleidet und andere dazu verdammt. Ein Quälgeist.
    Martha deutete in die Richtung des Kindergrabes. »Dort lag er, dein Vater. Doch er fand keine Ruhe. Spukte durch das Haus, flüsterte mir ins Ohr, dass ich ihn rausholen solle. Dr. Westmark hat mir geholfen, ihn zu befreien. Es war keine leichte Arbeit. Aber der Doktor war stärker, als man denken würde. Er kann gut mit einem Spaten umgehen. Und mit dem ganzen Papierkram auch«
    »Wieso hat der Doktor das alles gemacht? Der falsche Totenschein, das Vertuschen, die Umbettung der Leiche?«
    »Ich weiß nicht. Ich glaube, er hatte ein schlechtes Gewissen, wegen Tommi …«
    »Tommi?« Viktoria verstand nichts.
    »Thomas, so hätten wir unser erstes Kind genannt, doch es sollte ja nicht kommen. Ich war damals bei Dr. Westmark und hatte ihm erzählt, dass es mir nicht gut ginge und dass ich ein schlechtes Gefühl hätte. Und er hat gesagt, das sei völlig normal, wenn man schwanger sei und zudem noch bald heiraten würde. Ich sollte mir keine Sorgen machen, hat er gesagt. Ich solle einfach so weitermachen wie bisher, ich sei ja schließlich nicht krank. Und dann war plötzlich all das Blut da. Und Tommi war weg. Das tat dem Doktor leid.«
    Viktoria nickte. »Und dann hat er Ihnen geholfen, den Toten auszugraben.«
    »Ja. Ich war wegen meiner Albträume und der Schlaflosigkeit zu ihm gegangen, und er war ganz nett. Ich war richtig verdreht damals. Er half mir, und ich hatte ihm ja auch nicht erzählt, dass ich Bernhard gestoßen habe. Ich habe gesagt, er hätte am Baum gehangen am Morgen – und er verstand, dass ich nicht wollte, dass die Leute hier davon erführen. Sich selbst richten, das geht doch nicht.«
    »Das ist Sünde«, sagte Viktoria.
    Martha nickte. »Blut war ja auch nicht zu sehen. Der Bernhard war so hingefallen, dass das Genick einfach mitten durchbrach. Knacks. Also schrieb der Doktor etwas anderes auf den Totenschein und sorgte für die Umbettung nach Münster, damit ich keinen Ärger mit den Behörden oder der Polizei bekam. Im Totensack haben sie ihn in den Leichenwagen gepackt, der Doktor und der Mann vom Bestattungsinstitut. In aller Herrgottsfrühe, damit ihn niemand so sieht.«
    Viktoria öffnete die Tür nach draußen. Es war dunkel, aber noch sehr warm. Sie atmete tief ein. Schuld, dachte sie. Was ist das eigentlich? Würde im Berliner Express Bernhard das Opfer sein oder Martha, ihre Mutter oder sie selbst? Sie wusste es nicht mehr. Wie würde die Zeile lauten? FALSCHER SELBSTMORD AN DEN GLEISEN. Oder: MARTHA DAS MÖRDERMONSTER. Oder: KLEINER ROTER TRAKTOR IN MORD VERWICKELT. Berlin war so weit weg. Es duftete nach Rosen. Viktoria holte tief Luft.
    Die Alte trat neben sie. »Du hast sein Lächeln«, sagte sie noch einmal.
    Viktoria drückte Marthas schlanke Hand. Sie ist so zart, dachte sie. Zart, aber stark genug, um meinen Vater in den Tod zu schubsen.
    »Du Schlampe«, Marie Latell schimpfte mit sich selbst. Natürlich hatte sie kein Paketklebeband in ihrer Wohnung. Wozu auch. Hatte sie überhaupt schon einmal ein Paket verschickt? Aber irgendwo musste doch die alte Wolle liegen, mit der sie sich einmal eine Stola stricken wollte. Lila war sie, das wusste sie genau, doch wo sie war, keine Ahnung. Sie kramte. Und fluchte. Und fand sie schließlich in einer Tüte neben der Waschmaschine. Sie war nun mal unordentlich, daran konnte sie nichts mehr ändern. Aber die Kiste, die sie für Viktoria gepackt hatte, die sollte ordentlich sein. Sie wickelte die Wolle um den Karton und machte oben eine große
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