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Schubumkehr

Schubumkehr

Titel: Schubumkehr
Autoren: Robert Menasse
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für Abwehrbewegungen, die allerdings seltsam bedächtig den Angreifern entgegenschwebten, so schwerfällig, daß er nur deshalb schreien hätte wollen. Aber es geschah alles lautlos. Wirbelnde lautlose Bewegungen, die so beschaulich und träge wirbelten wie die Flocken in einem dieser Andenken, die, wenn man sie schüttelt, eine Sehenswürdigkeit im Winter zeigen. Trotz der tropischen Hitze hatte er diese Assoziation.
    Wieso wehrte er sich überhaupt? Er hätte sich nicht gewehrt, wenn sie ihm die Uhr vom Handgelenk, das Geld aus der Tasche zu reißen versucht hätten. Aber diese Halskette mit dem Anhänger, einem kleinen goldenen Herz, wollte er nicht hergeben, nicht kampflos überlassen. So weit er zurückdenken konnte, hatte er diese Halskette besessen, er hatte sie immer getragen, sie war älter als seine Erinnerungen, noch aus der Zeit, bevor man vergißt.
    Die Burschen ließen von ihm ab, ließen sie von ihm ab? Er sah sie nicht mehr, er sah vor sich nichts als die Dunkelheit der Straße. Sie war nicht schwarz, nicht nichts, die Dunkelheit war porös, weil sie von den Straßenlaternen beleuchtet war, nun allerdings auch von einem quallenartig sich ausbreitenden und plötzlich zusammenschnurrenden Licht, ein stechender Schmerz am Hinterkopf, nun war es ganz schwarz, endlich nichts, endlich ein traumloser Schlaf. Seltsam nur, daß er das wußte: Endlich ein traumloser Schlaf.
    Plötzlich sah er etwas Weißes, und er wußte nichts mehr. Eine leuchtend weiße Fläche, ein breiter Riß, ein Loch im Schwarz, das wie eine Mauer um ihn stand. Da wollte er hindurch, in das strahlend Helle. Er preßte seinen Kopf in diesen Durchschlupf, drängte hinein, es war weich und warm, warum wird er zurückgestoßen? Er versuchte es noch einmal, irgend etwas drängte ihn zurück, er gab nicht auf, er keuchte, als er sich in das warme Weiße verbohrte, er keuchte nicht alleine, es war ein Ringen, er hörte eine Stimme, Worte, die er nicht gleich verstand. War es die Stimme, die diese Worte ununterbrochen wiederholte, oder repetierte er sie selbst in seinem Kopf so lange, bis er ihren Sinn erfaßte? Kommen Sie zu sich! Ist ja gut. Ist ja gut. Kommen Sie zu sich! Er wurde nach hinten gedrückt, er gab diesem Druck nach, ließ sich zurücksinken, und als er keuchend auf dem Rücken lag, sah er weiß lackiertes Stahlrohr, über sich einen Galgen, einen Galgen?, neben sich eine Frau, eine Krankenschwester!, die ihre weiße Schürze, peinlich berührt, mit rasch wischenden Handbewegungen glättete. Ist ja gut. Ich hole jetzt den Arzt.
    Der Arzt war allem Anschein nach ein glücklicher Mann. Mit strahlendem Lächeln sagte er seinen Namen, zeigte sich zutiefst befriedigt, daß der Patient schon zu sich gekommen sei, erwähnte, mehrmals Glück gehabt! sagend, einen röntgenologischen Befund, Nichts Ernstes! sagte er und lachte. Nun müsse man nur noch alles aufnehmen, und er fragte ihn, wie er heiße, aber er wußte nicht, wie er hieß, wo er wohne, er wußte nicht, wo er wohnte, wie es zu der Kopfverletzung gekommen sei, er wußte es nicht. Der Arzt, der so freundlich gleich am Anfang seinen Namen gesagt hatte, wurde ungehalten mit dem Patienten, der den seinen so beharrlich verschwieg, und probierte es nochmals. Immer wieder fragte er ihn, wer er sei. Er wußte es nicht.
9.
    Dann ging er wieder durch die Stadt, es war nicht Nacht, aber auch nicht taghell, ein Dämmerzustand. Die Straßen waren belebt, er ging und ging, die geschäftigen zielgerichteten Bewegungen aller anderen ergaben Linien, ein dichtes Netz, durch das er hindurchging, als wäre er körperlos. Immer wieder griff er sich mit der Hand an den Hals, er wußte nicht warum. Was machte er hier? Wer war er? Er wußte es nicht. Ihm fiel ein, er müsse seine Taschen durchsuchen, um einen Hinweis zu finden. Er fand ein Taschentuch mit Blutflecken, einige Geldscheine, eine halbvolle Packung Zigaretten, ein Streichholzbriefchen von einem Hotel, einen Schlüsselbund. Wo paßten diese Schlüssel? Er wußte es nicht. Woher kamen die Blutflecken in diesem Taschentuch? Hatte er Nasenbluten gehabt? Er bohrte den Zeigefinger in die Nasenlöcher, um zu überprüfen, ob sie innen blutverkrustet waren. Kinder kamen ihm entgegen und lachten. War er ein Raucher? Er zündete sich eine Zigarette an. Mehr, als daß es ihm wohl tat zu rauchen, erfuhr er dadurch nicht. Dann zog er sein Sakko aus und überprüfte das Etikett. Das Sakko war in Paris hergestellt. In Paris?
    Er sah sich um und erkannte
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