Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schubumkehr

Schubumkehr

Titel: Schubumkehr
Autoren: Robert Menasse
Vom Netzwerk:
des Nordlichts erwartet wurde, oder war es nur ein weiterer Vorbote? In ihrer Stube war es eigentümlich hell, was aber nicht der Tatsache zu verdanken war, daß es draußen einen der hier so seltenen klaren Wintertage gab, an denen die schnee- oder reifbedeckte Landschaft gleißend unter einem wolkenlosen Himmel lag. Immer wieder stand Frau Nemec vor dem Fenster und blickte hinaus, immer wieder sagte sie sich, daß sie das, was sie sah, nicht hätte erleben mögen, obwohl sie doch, was Leib und Besitz betrifft, unbeschadet davongekommen war. Nur wenige Meter hinter dem Fenster, gleich nach dem Zaun ihres Grundstücks, war ein Wald, der sich bis nach Peugen erstreckte und der dortigen Grafschaft gehörte. Dieser Wald, so nahe am Fenster, dazu noch die Wald- und Moordämpfe und die Nebel waren dafür verantwortlich gewesen, daß in ihrer Stube immer ein recht trübes Licht geherrscht hatte. Nun war während der vergangenen drei Tage etwas passiert, das sie in ihrem ganzen Leben nie erlebt hatte, das sie nicht einmal vom Hörensagen kannte, das im Erzählenhören unglaublich klingen mußte – die Augenzeugen aber entsetzte.
    Frau Nemec nannte das, was sie beobachtet hatte, »angfrorenen Nebel«, und er hatte fürchterliche Wirkung gezeigt. Während eines plötzlichen Temperatursturzes wogte, von scharfem Nordostwind getrieben, ein sehr dichter Nebel her – und kristallisierte sich an den Bäumen. Die Eiskruste, mit der er Stämme und Äste umzog, hängte sich immer schwerer an, und der wachsende Druck der Last nötigte die Bäume zur Beugung, Brechung, Niederlage. Hundertfünfzigjährige Tannen wurden mit ihrer sonst nur durch schwerste Hebemaschinerie bezwingbaren Herzwurzel und den an ihr hängenden fünfzig Zentnern Erd- und Steinklumpen in einem Nu herausgerissen und lagen entästet, zerstückelt auf dem Boden, der im Augenblick vorher noch so viele Riesenstämme, nun so viele Riesengruben zeigte. Es sah aus, als hätten unzählige Bomben eingeschlagen, ein Schlachtfeld, ein Trümmerhaufen.
    Frau Nemec war fünfundsiebzig Jahre alt und nie über diesen Ort, an dem sie lebte, hinausgekommen, von Wallfahrten nach Maria Dreieichen und Mariazell abgesehen. Aber selbst sie hatte den Wald vor dem Fenster nicht als Jungwald gekannt, nie hat sie ihn wesentlich anders gesehen, als er noch vor wenigen Tagen gewesen war. Und jetzt war er mit einem Schlag verschwunden, wie umgepflügt von einer unfaßbaren Macht. Selbst wenn man ihn wieder aufforsten wird, sie wird ihn nie wieder so sehen, wie sie ihn kannte. Daß diese dunkle Wand, die der Wald vor ihrem Fenster dargestellt hatte, verschwunden war, wodurch jetzt viel mehr Licht in ihre Stube hereinfluten konnte, hatte seltsamerweise ihre Wahrnehmung nicht nur in diesem Raum und beim Schauen aus dem Fenster dieses Raumes gänzlich verändert. Beim Küchenfenster sah sie hinten hinaus zum Steinbruch, wo ihr verstorbener Mann bis zum Schluß gearbeitet hatte. Immer hatte sie den Steinbruch mit seinen Terrassen und den vielfachen Facetten seiner abfallenden Flächen als etwas Ganzes gesehen, als eine in die Tiefe geschlagene Skulptur, mit der es keines der irgendwo aufgerichteten steinernen Monumente – jedes Trumm nur ein kleiner Teil, ein Splitter – aufnehmen konnte. Hier ist das Ganze gewesen. Wie oft hatte sie vom Küchenfenster hinübergeschaut, wie oft ist sie hingegangen und hat hinuntergeschaut auf den ovalen hellgrünen Teich mit der sich über ihn hinwegschwingenden Braue des Abfuhrweges, Aug in Aug mit dem Steinbruch – der ihr nun plötzlich mit seinen Bruchflächen, Spalten und Klüften, mit den herausgesprengten rohen Quadern und dem Chaos des hingeworfenen Abraums wie eine Trümmerlandschaft vorkam. Nur noch Trümmer.
8.
    Er hatte oft davon gehört, und jedesmal ist erzählt worden, daß es so schnell ginge, daß der Betroffene keine Zeit hätte zu reagieren. Wieso ging es nun aber so langsam, daß er es merkte und sich wehren konnte? Vielleicht war der Handgriff ungeschickt durchgeführt worden, das kann wohl passieren, wenn man bedenkt, daß alle Beteiligten, Täter und Opfer, sich in Bewegung befinden.
    Plötzlich waren da zwei Burschen, der eine stieß ihn gegen die Schulter, der andere griff ihm an den Hals, sie taten es plötzlich, tatsächlich überfallsartig, aber es wirkte zugleich so gebremst und verlangsamt, als wollten sie gar nicht nach vorne stoßen und greifen, sondern sich von etwas Zäh-Elastischem hinter ihnen losreißen. Da blieb Zeit genug
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher