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Schubumkehr

Schubumkehr

Titel: Schubumkehr
Autoren: Robert Menasse
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nichts. Er war ein Fremder. Aber wo? Und von wo? Wer? Er schloß die Augen, als wollte er die Nacht in seinem Inneren trennen von jener, die sich nun über die Stadt zu senken begann. Man rempelte ihn an. Er hörte jemanden reden, so dicht neben ihm, daß er meinte, dessen Mundgeruch riechen zu können. Er hörte einen anderen lachen. Warum wußte er nicht, warum er nichts wußte? Er öffnete wieder die Augen und sah einen Mann, der die Abendzeitung ausrief. Diário da Noite! Diário da Noite! In seinen Ohren klang es wie Diaranoi. Er wiederholte leise Diaranoi, wiederholte dieses Wort mehrmals, dann lauter: Diaranoi. Er lächelte zufrieden, als hätte er plötzlich die Sprache dieser fremden Stadt gelernt. Dankbar kaufte er dem Mann eine Zeitung ab. Wo erschien diese Zeitung? In São Paulo. Er war in São Paulo. Aber warum? Und wo kam er her? Er verstand, was er in dieser Zeitung las, aber zugleich wußte er, daß sie nicht in seiner Muttersprache geschrieben war. In welcher Sprache dachte er? Als er sich dies gefragt hatte, wußte er schon nicht mehr, in welcher Sprache er diese Frage gedacht hatte, und es fiel ihm kein Wort mehr ein, nur noch die Worte, die er vor sich auf der Titelseite der Zeitung sah. Er schlug die Zeitung auf. Leiche einer jungen Frau in Hotelzimmer entdeckt. Ein grauenhafter Mord. Hotel Rei Momo. Die Frau müsse systematisch gequält worden sein, verstümmelt, das ganze Zimmer rot von Blut, die Identität des Mörders unbekannt, keine Spur. In seinem Inneren geriet etwas in Bewegung, es mußte ein Bild sein, eine visuelle Erinnerung, die versuchte, zu ihm zu gelangen. Kaum mehr als einen gestaltlosen rötlichen Lichtschein nahm er wahr, in dem sich ein unangreifbarer Wirbel von Farben flimmernd vermischte und verlor.
    Er klemmte die Zeitung unter die Achsel und zündete sich noch eine Zigarette an. Dabei fiel sein Blick auf den Schriftzug auf dem Streichholzbriefchen, das er in der Hand hielt. Er erschrak, steckte es rasch ein und spürte nun in seiner Hand das Taschentuch.
    Der Lichtschein wollte an die Oberfläche seines Bewußtseins gelangen, und er merkte, die Augen zusammenkneifend, wie er ihn mit einem Gefühl grenzenloser Panik wieder hinabzudrücken versuchte ins Dunkel. Er stöhnte laut auf und knüllte das Taschentuch in seiner Hosentasche, jemand fragte ihn, was er denn habe, ob ihm nicht gut sei, das Taschentuch wurde immer größer und immer dicker, er holte es aus der Tasche, laut stöhnend knüllte er es nun mit beiden Händen, wollte es wieder ganz klein machen, zusammenpressen, in seinen Händen verschwinden machen.
    Was ist denn? Nun war es da, das Licht.
10.
    Er kniete im Bett und knetete die Decke, bis er verwundert innehielt. Nach und nach gewöhnte er sich an die Helligkeit, begann, die Dinge in seinem Schlafzimmer nicht nur zu sehen, sondern auch wiederzuerkennen.
    Sie hatte das Licht eingeschaltet, Komm zu dir, was ist denn? sagte sie nochmals.
    Ich habe geträumt. Ich habe schon wieder so etwas Furchtbares geträumt.
    Stockend begann er den Traum zu erzählen. Zunächst der Überfall, zwei Straßenjungen hätten versucht, ihm die Halskette herunterzureißen, er griff an seinen Hals, da war die Kette. Es suchte den Anhänger, bis er ihn zwischen seinen Fingern spürte. Schau, wie verformt der Anhänger ist, es ist kaum noch zu erkennen, daß es ein kleines Herz war, ich muß es als Kind ganz zerbissen haben.
    Er holte tief Luft, keuchend, sein Brustkorb bebte. Er war noch immer so aufgeregt, daß er kaum sprechen und atmen gleichzeitig konnte. Mit den Milchzähnen, sagte er, und noch ein Luftholen wie ein Röcheln. Sie saß starr im Schneidersitz neben ihm im Bett und hörte zu. Er fragte sich, warum sie keine Anstalten traf, ihn beruhigend zu streicheln, merkte sie denn nicht, wie sehr er noch außer sich war? Dann der Schlag auf den Kopf, der völlige Gedächtnisverlust. Das Aufwachen im Spital, ohne zu wissen, wer er sei, schließlich das Herumlaufen in der Stadt, als ein Fremder, so absolut fremd, daß er überhaupt nichts mehr wußte. Sie gähnte.
    Und was war dann?
    Er sah sie an und wurde wütend, weil ihr so deutlich anzusehen war, wie sehr es sie anstrengte, ihm pflichtschuldig zuzuhören, bis er sich beruhigt hatte. Und was trug sie zu seiner Beruhigung bei? Keine zärtliche Geste, kein sanftes Wort – eine Zwischenfrage! Kreuzhohl saß sie da, in einer völlig verqueren Verspanntheit, mit der sie sich starr aufrecht hielt und ihm demonstrierte, welche
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