Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schubumkehr

Schubumkehr

Titel: Schubumkehr
Autoren: Robert Menasse
Vom Netzwerk:
Qualen sie ihm zuliebe auf sich nahm, und stellte eine Frage, die verriet, daß er endlich zum Ende kommen solle, damit sie weiterschlafen konnte. Gleich atmete er ein paarmal hechelnd durch und schüttelte verzweifelt den Kopf, nur um ihr zu zeigen, daß es noch lange nicht so weit war.
    Warum hast du denn so mit der Decke herumgetan, du hast ja gewütet mit der Decke, was hast du denn da
    Weiß ich nicht. Vielleicht war mir heiß. Der Angstschweiß. Ich bin noch immer völlig fertig. Würdest du mir eine warme Milch mit Honig machen?
    Sie ging in die Küche und kam einen kurzen Moment später schon wieder zurück – mit einem Glas Wasser.
    Ihre weinerliche Stimme. Daß der Steinboden in der Küche so kalt sei. Daß sie da nicht so lange barfuß herumstehen habe wollen. Daß in der Nacht immer die Kakerlaken herauskämen. Daß sie sich vor ihnen fürchte.
    Und dann, als sie sah, wie er sie ansah, sagte sie beinahe weinerlich: Trink ein bißchen Wasser, das wird dich auch beruhigen.
    Er hatte Lust, ihr das Wasser ins Gesicht zu schütten und nun zu ihr zu sagen: Wach auf! Er nippte an dem Glas und dachte, daß es aber unmöglich war, sie aufzuwecken. Es gab für Menschen wie sie keinen heilsamen Schock. Wenn ich sie verlasse, wird sie mit dieser weinerlichen Stimme jedem erzählen, daß sie doch immer so einfühlsam und zärtlich, auch wenn er so grob oder abweisend, und wenn er schlecht geträumt, habe sie stets geduldig und – Ist sie verrückt geworden? Das war Zuckerwasser! So lieb habe sie ihm Zuckerwasser gebracht zur Beruhigung, immer so lieb und alles gemacht, geduldig zugehört, aber er. So irgendwie würde sie es erzählen, und sie wäre auch felsenfest davon überzeugt, daß es so war. Nun war ihm speiübel auch noch, er stellte das Glas ab, Danke, sagte er. Sie lächelte gequält. Er sah, daß ihr die Müdigkeit bereits wehtat, aber, dachte er, sie litt so selbstgerecht, im Glauben, wieder einmal bewiesen zu haben, daß sie mit ihm durch dick und dünn gehe, während sie, infantil wie sie war, in Wahrheit überhaupt nicht verstand, warum es nicht immer so unbeschwert sein konnte, wie sie es liebte, wieder ein Wochenende in Rio oder ein paar Tage in Barra de Una am Strand, das liebte sie, sie liebte alle Situationen, in denen er sich fragte, was er hier machte, außer der Zeit zuzusehen, wie sie verging, und dabei zu schwitzen, aber für sie war es das Glück, und wenn es perfekt war, ihr Glück, dann hatte er dabei keine Alpträume, keine Anwandlungen von Irritation, keine seltsamen Ideen, die sie nicht verstand, was bist du so unruhig, mein Lieber, wieso bist du so gereizt, es ist doch so schön hier.
    War das schon der ganze Traum?
    Nein, sagte er, obwohl er keine Lust mehr hatte, seinen Traum weiter zu erzählen. Schon gar nicht die Geschichte vom Kauf der Zeitung mit dem Artikel über den Mord. Ein Mord in dem Hotel, in dem sie unlängst gewesen sind, in Rio. Da war sie imstande, aus der starren Leere ihres pflichtschuldigen Zuhörens aufzuschrecken und, nur weil sie das auf sich beziehen konnte, plötzlich irgend etwas daran herumzuinterpretieren. Das wäre noch unerträglicher. Manchmal ißt man zu spät und zu schwer, dann träumt man schlecht, das hatte keine Bedeutung, schon gar nicht die, die sie dem Ganzen womöglich geben würde. Er wollte jetzt lieber – was wollte er? Er wollte – noch einmal aufwachen! Erst jetzt aufwachen, und
    Und was war dann? Ist deine Erinnerung wieder zurückgekommen ?
    Erinnerung wieder zurückgekommen, dachte er fassungslos, Erinnerung wieder zurückgekommen, wie dumm sie war. Seit wann haben Alpträume ein Happy-End? Ja, sagte er, sie ist wieder zurückgekommen, hör zu, das war so.
    Also, wie gesagt, ich bin herumgerannt und habe nicht gewußt, wer ich bin und wo ich bin. Da kam ich bei einem Straßencafé vorbei, und ich beschloß, mich zu stärken und systematisch zu versuchen, mich zu erinnern. Das Café hieß Madeleine.
    Madeleine, sagte er nochmals. Beinahe amüsierte und besänftigte ihn die Geschichte, die er jetzt erfand. Dann sah er wieder, wie sie ihn ansah, und er wußte, sie wird ihm jedes Wort glauben, nichts begreifen und morgen wieder alles vergessen haben.
    Jedenfalls, ich bestellte einen Tee und dazu eines der Sandtörtchen, die sie dort in einer Vitrine hatten. Dieses Törtchen hatte die Form einer Muschel, es sah ungefähr so aus wie eine Casquinha de Siri, und, ich wußte nicht warum, ich dachte, als ich es sah: Genau das will ich jetzt
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher