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Schubumkehr

Schubumkehr

Titel: Schubumkehr
Autoren: Robert Menasse
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Jaulen des tschechoslowakischen Grenzalarms. Er machte mit den erhobenen Händen winkende Bewegungen, sie sollten beruhigend, begütigend wirken, Ist eh nichts geschehen, sagte er immer wieder, Entwarnen! Ist eh nichts geschehen.
    Davon wußten die Menschen nichts, die vor der Mehrzweckhalle standen und erregt disputierten, mit Rauchsäulen vor ihren Mündern, ohne aber die Kälte dieses Jännerabends zu spüren. Dem Oberlehrer Trisko war bald klar, daß der Lichtschein am Himmel nicht von einem Großbrand herrührte, sondern, wie er erklärte, ein in diesen Breiten äußerst seltenes Nordlicht war.
    Ein Naturschauspiel, sagte er tonlos. Abergläubische Stimmen wurden laut, daß dieses Nordlicht ein Unglück ankündige, schlecht wirds werden, wir werden noch von den Steinen abbeißen müssen.
    Ein Unglück, sagte Trisko, ja, ein Naturschauspiel.
4.
    PLAY. Zeig mir deine verführerischste Pose!
    Ich finde das peinlich. Warum macht er das? Das muß doch eine Qual sein für das Mädchen.
    Ich weiß nicht. Andererseits spielt sie mit. Da ist einige Koketterie dabei.
    Finden Sie?
    Ja.
    Wenn das wer sieht. Wenn da wer zuschaut.
    Wir sind doch alleine. Keiner kann zuschauen.
    Aber später einmal. Was gefilmt ist, kann abgespielt werden, das kann sich wer anschauen. Ich will das nicht.
    Komm, gib die Decke weg, ich will dich sehen.
    Gib die Kamera weg, du kannst mich ja sehen, alles darfst du sehen, aber gib die Kamera weg. Mußt du denn immer alles aufnehmen?
    Ein Schwenk im Zimmer, es ist hauptsächlich in Rot gehalten, der plüschige Kopfteil des Bettes, die Tapeten, das viele Rot bewirkt einen Rotstich im Film, ein rotes Flimmern, ein mit rotem Samt überzogener Sessel, über den Kleidungsstücke geworfen sind, daneben eine rötlich-braune Truhe mit einer Tasche darauf.
    Was hast du nur mit dieser Kamera?
    Sag: Ich will nur dich.
    Ich will nur dich.
    Noch einmal. Überzeugender.
    Ich will nur dich. Gibst du jetzt die Kamera weg?
    Ein Zoom auf die roten Stöckelschuhe vor dem Sessel STOP.
    Ich finde das unerträglich. Schalten wir ab? Vielleicht finden wir eine Kassette, auf der er selbst drauf ist.
    Er ist auf keiner Aufnahme zu sehen. Er war immer hinter der Kamera. PLAY.
    Plötzlich ein viel zu schneller Schwenk, das Mädchen steht neben dem Bett, immer noch preßt sie die Decke an ihren Körper, dann läßt sie sie fallen.
    Sie ist ja gar nicht nackt!
    Warum haben Sie gedacht, daß sie nackt ist?
    Da läuft das Mädchen los, auf die Kamera zu, nichts mehr zu sehen, reine Bewegung, sonst nichts, dann das Mädchen von hinten, verwackelt und unscharf, die Kamera hat keine Zeit, sie präzis zu fokussieren, hinein ins Badezimmer, da steht das Mädchen schon in der Badewanne und schiebt den Duschvorhang zu. Rosa Plastik. Die Kamera filmt nun bedächtig den Duschvorhang, suchend, er ist blickdicht, kein Schatten dahinter zu sehen, plötzlich fliegt ein T-Shirt über den Duschvorhang, Büstenhalter, Jeans, Höschen, die Kamera geht zurück, filmt die nun auf dem Boden liegenden Kleidungsstücke, man hört das Prasseln von Wasser. Ein Schwenk zu einem Badetuch, das auf einer Chromstange zwischen Wanne und Waschbecken hängt, Zoom, gleichzeitig ist ein Lachen zu hören. PAUSE. Bildfüllend das Badetuch. Unter der Schrift HOTEL REI MOMO ist auf dem Badetuch ein ungemein fetter Mann abgebildet, mit einer eigentümlichen, wegen der Verzerrung des Standbilds nicht eindeutig erkennbaren Kopfbedeckung.
    Der Dicke auf dem Handtuch da sieht aus wie Buddha mit einer Narrenkappe.
    Das ist Rei Momo, der König des Karnevals.
    Kennen Sie das Hotel?
    Nein. Könnte irgendein kleines Hotel in Rio sein.
5.
    Zurück in São Paulo. Sie rief sofort eine Freundin an und erzählte vom Hotel, von den Stränden und den Ausflugsmöglichkeiten, so schwärmerisch, als wäre sie Angestellte in einem Reisebüro. Er ärgerte sich, daß er nicht zu Hause geblieben war. In seinem Zimmer, oder draußen in der Hängematte, hätte er unbehelligt einen Roman lesen können, oder die Augen schließen. Er war ein Wiederholungsopfer. Immer wieder wurde er von ihr zu fremden Kulissen geschleppt, die im glücklichsten Fall so aussahen wie deren Abbildungen in den Prospekten, die sie dorthin gelockt hatten. Er fragte sich, warum es Menschen Wollust bereitete, etwas wiederzuerkennen, das sie zum ersten Mal sahen. Oder warum sie glaubten, daß die Sonne an einem anderen Ort eine andere Sonne sei, nur weil man dort andere Umstände traf als zu Hause, um sich vor ihr zu
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