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Schrottreif

Schrottreif

Titel: Schrottreif
Autoren: Isabel Morf
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kleingekriegt. Diesmal nicht.« Er erhob sich langsam, groß, breitschultrig, zitternd vor Wut. Kam einen Schritt auf Streiffs Schreibtisch zu.
    »Setzen Sie sich«, sagte der Kriminalbeamte scharf. »Und jetzt der Reihe nach.«
    Es war unterdessen dunkel geworden. Streiff spürte keine Müdigkeit, er war hoch konzentriert, wach, alle seine Antennen waren ausgefahren, auf sein Gegenüber fokussiert. Er war in einem Zustand höchster Aufmerksamkeit und Offenheit, in dem er fast intuitiv jede Kleinigkeit im Verhalten eines Angeschuldigten wahrnahm und zu deuten verstand, in dem er Lügen entlarvte, Behauptungen parierte, Ausreden vom Tisch wischte, auf Andeutungen einging, aus seinem widerstrebenden Gegenüber nach und nach die Wahrheit herausholte. Hinterher, wenn er sich die Bandaufnahme eines Verhörs anhörte, konnte er selbst kaum mehr sagen, was ihn geleitet hatte, warum er an einer Stelle unerbittlich nachgehakt, eine andere Aussage nachlässig übergangen hatte, den Vernommenen unversehens mit einer früher gemachten Aussage konfrontiert hatte, einmal sprunghaft vorgegangen war und dann wieder erbarmungslos eine bestimmte Spur verfolgt hatte.
    Stüssi setzte sich. Er war geschwächt, registrierte Streiff. Die Wut, die ihn überkommen hatte, das Gefühl, verraten worden zu sein, hatten ihn ungeschützt zurückgelassen. Streiff orderte einen Kaffee für ihn. Dann begann Markus Stüssi zu reden.
     

Freitag, 4. Woche
    1. Teil
    Gegen 21 Uhr beendete Streiff seinen Bericht. Anderthalb Tage hatte er sich mit Markus Stüssi unterhalten. Zuerst hatte er seinen Widerstand überwinden müssen und dann, als die Schleusen offen waren, hatte Markus nicht mehr aufgehört zu reden. Streiff hätte den Bericht genauso gut am kommenden Tag abschließen können, aber wenn er ein Verhör beendet hatte, konnte er erst abschalten, wenn er es schriftlich niedergelegt hatte, solange seine Erinnerung ganz frisch war und die Tonaufnahme, wenn er sie anhörte, von Bildern, von Gefühlen, von flüchtigen Assoziationen des Augenblicks begleitet war.
    Markus Stüssi war ein Mensch, der sich immer als Verlierer fühlte. Irgendwie war er das ja auch, dachte Streiff. Die Frage war, ob seine Geschichte nicht dennoch anders hätte herauskommen können. Es war nicht zu entscheiden, wie viel er selbst mitgestrickt hatte an dem Muster, das sein Leben prägte, inwiefern ihm das unselige Strickzeug in die Hände gezwungen worden war. Es waren niemals nur die Umstände schuld, wenn ein Mensch einen anderen umbrachte, davon war Streiff überzeugt. Ein kleines Stück Selbstverantwortung musste jeder tragen, das gehörte zu seiner Würde. Wenn man ihm diese Selbstverantwortung absprach, sprach man ihm damit die Eigenständigkeit, die Selbstbestimmung ab. Wenn man alles entschuldigte, blieb letztlich der Respekt auf der Strecke. Die Situation eines Menschen mochte noch so unerträglich sein, noch so ausweglos erscheinen, letztlich, an einem ganz kleinen Ort gab es trotzdem einen Spielraum für die Entscheidung: ja oder nein. Markus Stüssi hatte sich entschieden. Er hatte Hugo Tschudi getötet.
    Seine Lebensumstände waren in der Tat schwierig gewesen. Von Anfang an. Ein strenger Vater, der ihn schlug. Eine Mutter, die ihm nicht beistand. Ein Versager in der Schule, der knapp versetzt wurde, ein Junge, der nicht viele Freunde hatte, verschlossen und in sich gekehrt, ein Einzelgänger, der aber, wenn er verspottet wurde, sich in plötzlichen Zornausbrüchen mit Schulkollegen prügelte. Er gewann meistens, nicht weil er der Stärkste war, sondern weil es ihm ernst war, weil seine Wut größer war als die der anderen. Seine Verfehlungen wurden den Eltern gemeldet, worauf der Vater ihn seinerseits verprügelte. Nach der Schulzeit fand er in letzter Minute eine Lehrstelle, obwohl kein Lehrstellenmangel herrschte. Handwerklich war er gut, in der Theorie war es wieder knapp, aber er bestand die Lehrabschlussprüfung. Die Mädchen wollten nichts von ihm wissen, er sah nicht gut aus, er war nicht charmant; manche lachten ihn aus, andere übersahen ihn einfach. Er war immer noch verschlossen und wortkarg, aber in ihm brodelte ein Groll, eine Wut, die sich nicht mehr in Pausenschlägereien entladen konnte. Er brauchte ein anderes Ventil. Durch Zufall landete er bei einer rechtsextremen Gruppe. Das hatte nichts mit einer politischen Einstellung zu tun, Markus hatte gar keine politische Meinung. Streiff hatte ihn gefragt, welche Partei er wähle. Stüssi ging nie
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