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Schrottreif

Schrottreif

Titel: Schrottreif
Autoren: Isabel Morf
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wütender und verlangte ihre Superbremsen. Jetzt. Sofort.
    Markus zuckte die Schultern. Sagte nichts. Es war offensichtlich, dass er mit dieser Kundin und ihrem Anliegen nichts anzufangen wusste.
    Valerie war klar, dass das eine der Situationen war, in denen die Chefin gefragt war. Sie kam herein, Seppli dicht hinter ihr, Angela stampfte ihr entgegen, baute sich vor ihr auf und setzte zu einer Auflistung aller Verfehlungen von FahrGut in den letzten zwei Jahren an. Seppli knurrte leise.
    Valerie sah rot. Sie sagte: »Raus! Nimm dein Velo und verschwinde. Definitiv. Die Lichtreparatur ist ein Abschiedsgeschenk.«
    Angela holte tief Luft.
    »Raus!«, befahl Valerie nochmals etwas lauter. Sie spürte einen Adrenalinstoß durch ihren Körper fahren und dachte: Valerie, gib acht. Sie machte einen Schritt auf Angela Legler zu, und diese wich zwei zurück. Valerie wurde bewusst, dass sie noch immer das Messer in der Hand hielt, mit dem sie draußen Kartonagen zerschnitten hatte.
    »Meine Bremse, das werde ich euch heimzahlen!«, stieß Angela hervor, bevor sie ihr Rad packte und machte, dass sie wegkam.
    Luís, der Valerie ohnehin bewunderte, applaudierte beeindruckt, während Markus sich ohne Kommentar wieder seiner Reparatur zuwandte. Großartig, dachte Valerie. Sie kannte ihr impulsives Temperament und erlaubte sich nicht mehr als zwei Zornesausbrüche pro Saison unverschämten Kunden gegenüber. Nun hatte sie schon ganz zu Beginn einen davon verbraucht. Zudem kam ihr jene Marketingstudie in den Sinn, gemäß der verärgerte Kunden ihren Frust durchschnittlich bei elf Leuten abluden, während es zufriedenen Kunden reichte, ihre Geschichte viermal weiterzuerzählen. Angela Legler würde die Szene von vorhin vermutlich mindestens 20-mal zum Besten geben.
    »Räumen wir zusammen«, wies sie ihre Angestellten an, »es ist gleich halb.« Luís stellte die Fahrräder und den Ständer in den Laden, Markus führte den Diebstahlcheck durch, während Valerie die Kasse übernahm. Der Diebstahlcheck war leider nötig geworden. Seit mindestens einem halben Jahr wurde bei FahrGut regelmäßig geklaut. Mehrmals pro Woche. Immer einzelne Stücke, teures, qualitativ hochwertiges Zubehör. Helme, Schlösser, Sättel. Regenjacken. Es ging ins Geld. Mal 90 Franken. Mal 200. Mal 130. Und nicht nur das. Schlimmer war der unterschwellig allgegenwärtige Argwohn, den Valerie ihren Kunden gegenüber entwickelt hatte, ein leises Misstrauen, wenn sie jemanden bediente, der Gedanke: Bist du vielleicht der Dieb, auch wenn du jetzt so harmlos eine Kinderfahrradglocke kaufst? Wollte jemand dem Geschäft schaden?
    »Ein Set Satteltaschen fehlt. 145 Franken«, meldete Markus.
    Valerie fluchte. »Und ihr habt beide nichts gesehen?«
    Betretenes Kopfschütteln. Sie war ungerecht, Valerie wusste es. Sie hatte ja ebenfalls nichts bemerkt. Seltsam war es schon, dass sogar Dinge verschwanden, die nicht so einfach zu verbergen waren wie Kilometerzähler oder Sport-T-Shirts. Aber Valerie wusste, dass andernorts ganze Musikanlagen aus Geschäften hinausgetragen wurden.
    »War Tschudi heute mal da?«, fragte sie.
    Luís nickte. Insgeheim hatte Valerie Hugo Tschudi im Verdacht, die Diebstähle zu begehen. Er war Kunde – nun ja, ›Kunde‹ war ein großes Wort. Ein komischer Vogel, fuhr einen Schrottesel, mit dem er wieder und wieder in den Laden kam. Irgendetwas daran zu flicken gab es immer. Aber vermutlich kam er gar nicht deshalb. Hugo mochte um die 50 sein, wirkte ungepflegt, schien nicht zu arbeiten. Er war lang und hager, die meist ungewaschenen Haare hingen ihm ins Gesicht, die Kleider stammten aus dem Brockenhaus, einem Secondhandladen. Irgendwie war er der Zeit in den 70er-Jahren vom Karren gefallen und dort hocken geblieben. Er kam, um Gesellschaft zu haben, um seine Weltanschauung zu predigen – und möglicherweise, um schönes Fahrradzubehör abzustauben und weiterzuverkaufen, mutmaßte Valerie gereizt. Von irgendetwas musste er ja leben. Sie entließ Markus und Luís in den Feierabend und schloss hinter ihnen ab.
    Anschließend warf sie einen Kontrollblick auf die Fahrräder, die auf ihre Reparatur warteten. Wieder entdeckte sie eines mit einem schwarz übermalten FahrGut-Sticker. Komisch, dachte sie. Das fiel ihr seit einigen Monaten auf, dass immer wieder Räder in die Werkstatt kamen, bei denen der kleine, grün-weiß gestreifte Werbesticker, der auf dem Schutzblech jedes bei ihr gekauften Velos klebte, unkenntlich gemacht worden war.
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