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Schrottreif

Schrottreif

Titel: Schrottreif
Autoren: Isabel Morf
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Valerie hatte die Kunden nie darauf angesprochen. So wichtig war es ja nicht. Sie fand es einfach ein bisschen seltsam. Ging jemand mit einem dicken schwarzen Filzstift durch Zürich, der es auf ihre kleinen Werbebotschaften abgesehen hatte? Der Gedanke war absurd. Und doch. Es gab ja auch jemanden, der klaute. Gab es eine Verbindung zwischen diesen beiden Vorgängen? Gab es eine Person, die etwas gegen FahrGut hatte? – Ach was, Unsinn, rief sich Valerie zur Ordnung. Erst mal war es so, dass sie ein Problem mit jemandem hatte: Angela Legler. Valerie stieg die Gitterwendeltreppe entschlossen hinab in den unteren Stock.
    Dort waren die große Fahrradausstellung, die Velobekleidung samt Umkleidekabine, eine Kinderecke und ihr Büro untergebracht. Der Hund folgte ihr, er war ihr immer auf den Fersen. Seinen Pfoten zuliebe hatte sie auf der Metalltreppe kleine Spannteppichstücke platziert. Im Büro startete Valerie Gut den Computer und klickte sich in die Kundenkartei. Gab den Buchstaben L ein. Da war sie. Legler, Angela. Name, Adresse, Telefon, E-Mail-Adresse. Bearbeiten. Markieren. Delete. Gelöscht. ›Ermorden‹ nannte Valerie es, wenn sie einen besonders unangenehmen Kunden aus der Versandliste entfernte. Sie tat es selten. Aber mit Befriedigung. Angela Legler war für sie gestorben.
     
     
     
     
     
     
    2. Teil
    Im oberen Stockwerk schaute sie sich um. Das war ihr Reich. Seit fast zehn Jahren. Sie war nach wie vor stolz auf diese zweimal 80 Quadratmeter: Werkstatt, Ausstellung, Verkaufsfläche. Geräumig, zweckmäßig eingerichtet, die Produkte vorteilhaft präsentiert. Drei Arbeitsplätze und 3.000 Kunden in der Kartei. Sie schloss hinter sich ab.
    Der alte Laden hatte ganz anders ausgesehen. Darin war sie praktisch aufgewachsen. Ihr Vater war Velomechaniker gewesen, hatte eine kleine Bude im Quartier gehabt. Die Mutter hatte ihm ›das Büro gemacht‹, wie man damals sagte. Und für die kleine Valerie war die enge, etwas schmuddelige und nicht sehr helle Werkstatt der spannendste Ort der Welt gewesen. Es hatte dort so viele wunderbare Dinge gegeben: weiches himbeerfarbenes Kugellagerfett und dunkles Grafitfett, in das sie ihre kleinen Hände tauchte; silbern glitzernde Rädchen, Schrauben und Muttern, aus denen sie sich mit Hilfe von dünnem Draht Schmuck bastelte. Mit altem Werkzeug durfte sie auf zerbeulten Schutzblechen herumhämmern, ausprobieren, ob sie einen kaputten Schlauch wieder dicht bekam. Sie hatte ihrem Vater so oft bei den gleichen Reparaturarbeiten zugesehen, seine Bewegungen beobachtet, wie er das Werkzeug ansetzte – ihr schien es, als habe sie es wie von selbst gelernt. Bevor sie zehn war, konnte sie einen platten Reifen und eine Bremse reparieren, ein Rad zentrieren, Speichen einsetzen. Nach der Schule saß sie zuerst bei der Mutter im Büro und machte Hausaufgaben und anschließend ging sie in die Werkstatt hinüber, wo der Vater sie an schrottreifen Velos herumbasteln ließ.
    Valerie nahm den Hund an die Leine und befestigte sie an der Halterung ihres Fahrrads. Sie schob das Rad über die Birmensdorferstrasse, stieg auf und fuhr an der Haltestelle Schmiede Wiedikon vorbei in die Zurlindenstrasse in Richtung Sihl. Seppli zog an der Leine. Sie überquerte den Hertersteig und bog bei der Sportanlage in die Sihlpromenade ein. Dort ließ sie ihn frei laufen. Da sie es nicht eilig hatte, ging sie zu Fuß weiter.
    Sie war gerne zur Schule gegangen, hatte gute Noten gehabt. Ihr Vater war stolz auf sie gewesen und hatte gewollt, dass sie aufs Gymnasium ging und studierte. Das hatte Valerie auch gemacht: Betriebswirtschaft und Ökonomie. Sie hatte in einigen Betrieben gearbeitet, in einer Messerfabrik in Delémont das Marketing übernommen, später in der Geschäftsleitung einer kleinen Textilfabrik in Mollis Einsitz gehabt. Ihr Vater hatte gehofft, sie würde in einen großen Konzern eintreten, Karriere machen. Es war für Valerie nicht ausgeschlossen gewesen, diesen Weg einzuschlagen.
    Sie lief der Sihl entlang, die träge dahinfloss, schob das Rad neben sich her und schaute ab und zu nach Seppli. Er tobte mit einem anderen Hund herum, mit offenem Maul und fliegenden Ohren. Die Tiere jagten den Sihlhügel hoch und runter.
    Dann hatte ihr Vater mit Mitte 60 einen Herzinfarkt erlitten und gleich darauf einen leichten Hirnschlag, von dem er sich nie mehr vollständig erholte. Schnell war klar: Er würde nicht mehr arbeiten können. Plötzlich hatte Valerie gewusst, dass es ihr Spaß machen
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