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Schrottreif

Schrottreif

Titel: Schrottreif
Autoren: Isabel Morf
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würde, das Geschäft zu übernehmen. Der Vater war zuerst etwas irritiert gewesen. Hatte seine Tochter an der Universität studiert, um mit Ende 20 das Gleiche zu machen wie er, der gelernte Velomech? Nun ja, es ihrem Vater gleichzutun, hatte Valerie gerade nicht vor, auch wenn sie ihm das natürlich nicht ins Gesicht gesagt hatte. Sie wollte es besser machen. Sie gestaltete den Laden völlig um. Zwischen Werkstatt und Verkaufsteil ließ sie eine Mauer herausbrechen und die dunkle Holzdecke entfernen, sodass der Raum heller, höher, geräumiger wurde und großzügiger wirkte. Sie ließ die Wände neu anstreichen, veränderte die Einrichtung, ging die Produkte durch, warf einiges aus dem Sortiment, führte anderes neu ein, gab dem Geschäft einen Namen, entwarf knackige kleine Inserate für die Quartierpresse und machte nebenher die Fahrradhändlerprüfung.
    Im ersten Jahr war sie allein im Laden. Ihr Vater hatte ebenfalls keine Angestellten gehabt, aber die Mutter hatte mitgearbeitet, die Buchhaltung gemacht, sich um Bestellungen gekümmert, geputzt. Valerie hingegen war auf sich gestellt, was ihr anfangs zu schaffen machte. Natürlich ließ sie sich das nicht anmerken. Die Mutter hatte ihr angeboten, weiterhin die Buchhaltung zu übernehmen, aber das wollte Valerie nicht. Es wäre kein richtiger Neuanfang gewesen. Sie wimmelte die Mutter taktvoll ab und diese hatte zudem genug mit der Pflege des Vaters zu tun. Valerie traute sich in der ersten Zeit kaum, aufs Klo zu gehen, fürchtete sich davor, morgens zu verschlafen oder gar krank zu werden. Aber es ging gut. Am allerersten Tag war zwar ihr erster ›Kunde‹ ein Vertreter gewesen, der ihr eine Kaffeemaschine andrehen und sie, als sie ablehnte, zu Jesus bekehren wollte. Sie entkam der Situation elegant mit Hilfe einer Nachbarin, die ihr gerade im richtigen Moment zur Neueröffnung ein Stück Kuchen vorbeibrachte. Neben der Stammkundschaft aus dem Quartier, die dem Laden treu blieb, zog sie neue Kunden an. Im ersten Sommer arbeitete sie manchmal bis 23 Uhr oder kam am Montag, ihrem freien Tag, für ein paar Stunden. War das zu Zeiten ihres Vaters genauso gewesen? Es war ihr früher gar nicht aufgefallen, wie viel er gearbeitet hatte. Im zweiten Sommer war klar, dass sie jemanden anstellen musste. Nach drei Jahren bewarb sie sich um ein größeres Ladenlokal, ganz in der Nähe, aber in einer besseren Lage, gleich gegenüber der Tram- und Bushaltestelle Schmiede Wiedikon und neben einem Supermarkt, und zog um. Jetzt konnte sie ein breiteres Sortiment führen, mehr Auswahl anbieten, ein größeres Lager haben. Es war nicht mehr so eng zu zweit, und nach einigen Jahren begann sie, einen Anlehrling oder Lehrling auszubilden.
    Seppli war verschwunden und tauchte auch nicht auf, als Valerie ihn rief. Das konnte nur eines bedeuten: Er hatte irgendwo im Buschwerk am Hang des Sihlbergs etwas zu fressen gefunden. Wahrscheinlich etwas äußerst Unappetitliches. Hoffentlich nichts, was zudem unbekömmlich war. Sie hatte keine Lust, sich mitten in der Nacht um einen kotzenden Hund zu kümmern. Endlich kam er angeschlichen und sie nahm ihn an die Leine. Sie zerrte ihn mit der einen Hand von einer offensichtlich wunderbar riechenden Stelle weg, während sie mit der anderen ihr Rad schob, und überquerte die Bederstrasse.
    Zu Hause duschte sie, schrubbte sich Reste von Karrenschmiere von den Händen, zog sich etwas Bequemes an und warf tiefgefrorenes Gemüse und etwas Rindfleisch in den Wok. Dazu legte sie eine CD ein. Stockhausen. Mit dieser Vorliebe konnte sie in ihrem Bekanntenkreis keine Begeisterung wecken. Aber hier störte es ja niemanden. Valerie lebte seit vier Jahren allein, seit Lorenz ausgezogen war, mit dem sie zehn Jahre zusammen gewesen war. Sie hatte den Gedanken, sich eine kleinere Wohnung zu suchen, aufgegeben und sich großzügig in den viereinhalb Zimmern eingerichtet. Als besonderen Luxus empfand sie ihre Bibliothek. Ins kleinste Zimmer hatte sie alle Bücherregale gestellt, dazu einen bequemen Sessel und eine Stehlampe. Hier verbrachte sie am liebsten ihre Abende, wenn sie nicht ausging oder Besuch hatte. Zum Essen öffnete sie sich ein Bier und schaltete den kleinen Fernseher ein, ohne richtig hinzusehen. Sie hatte keine Lust, an die Szene mit Angela Legler zu denken, und die dissonante Musik von Stockhausen erinnerte sie zu sehr daran. Der Krimi im Fernsehen allerdings brachte ihr die verdammten Diebstähle im Laden ins Gedächtnis zurück und daran
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