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Schrottreif

Schrottreif

Titel: Schrottreif
Autoren: Isabel Morf
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jeden Tag einen Satz. Was du willst. Du kannst etwas beschreiben, das du gesehen, gemacht oder gedacht hast.«
    Er hatte sie nur verständnislos angesehen.
    »Heute Morgen«, sagte Valerie, »hast du einem Velo einen neuen Sattel montiert. Das könntest du zum Beispiel schreiben.«
    Abends zeigte ihr Luís das Heft. Der erste Satz lautete: ›Ich zendriere Rad heute. Und ich schbiele mit Hund.‹
    »Super«, lobte Valerie. Und dann besprach sie mit ihm die Rechtschreibfehler.
     
    Heute war Luís also wieder mal zu spät dran. In Windeseile hatte er sich in den Arbeitsoverall geworfen und tauchte wieder auf. Er schnappte sich rasch das Fahrrad, das Valerie ihm zuschob, und begann, den platten Schlauch aus dem Reifen zu schälen.
    Valerie deutete auf die Pneuoberfläche: »Wie nennt man das?«
    »Profil«, antwortete er.
    Valerie nickte. Es war heute bedeckt und kühler und das machte sich am Kundenvolumen bemerkbar. Sie ging ins Büro hinunter, um Bestellungen zu erledigen und die E-Mails zu checken. Außerdem hatte sie vor, die Website zu aktualisieren. Der nächtliche Anruf ging ihr wieder durch den Kopf. Unangenehm. Aber falls er sich nicht wiederholte, würde sie nichts unternehmen. Lina, ihrer besten Freundin, würde sie es erzählen.
    Sie wandte sich ihrer Arbeit zu, musterte einen Bestellzettel, den Markus falsch ausgefüllt hatte, und korrigierte. Tja, die Angestellten. Das war ein Kapitel für sich. Valerie hatte zwar schon, bevor sie ein eigenes Geschäft führte, Leitungsfunktionen innegehabt und war Chefin gewesen. Aber sie hatte ihre eigenen Vorstellungen und strebte eine partnerschaftliche Zusammenarbeit an, wollte flache Hierarchien und Frauen fördern. Allerdings hatte sie es nicht gerade geschickt begonnen. Ihre erste Mitarbeiterin war Rahel Aebli gewesen, eine junge Kindergärtnerin, die aus ihrem Beruf raus und eine Männerdomäne entern wollte. Sie war Autodidaktin, brauchte aber noch Anleitung und Ausbildung. Valerie begegnete ihr freundschaftlich, was bedeutete, dass sie es war, die den Abfall raustrug und putzte, ihrer Angestellten aber genauso viel Lohn bezahlte, wie sie selbst bezog. Valerie kaufte einen neuen Kompressor, damit sie nicht von Hand Pneus aufpumpen mussten. Rahel wies darauf hin, dass der Kompressor die Luft verschmutzte und dringend ein Filter anzubringen war. Valerie bastelte einen. Rahel machte darauf aufmerksam, dass ihr Lohn unter dem branchenüblichen Ansatz lag. Zwar bezog sie sich hier auf ausgelernte Mechaniker, übersah das jedoch großzügig. Rahel wies immer wieder auf dieses und jenes hin, verbunden mit dem Zusatz, dass sie von einer weiblichen Chefin etwas anderes erwartete. Bis Valerie sie in einem Zornesausbruch hinauswarf.
    Nach dieser Geschichte war Valerie über die Bücher gegangen. Innerlich. Hatte Lehren daraus gezogen. ›Freunde dich nicht mit dem Personal an‹, hatte sie groß in ihr Tagebuch geschrieben. Von da an änderte sie ihr Verhalten. Sie verwedelte die Tatsache, dass sie die Chefin war, nicht mehr. Und ab diesem Zeitpunkt hatte sie weniger Probleme mit ihren Angestellten. Sie hatte im Laufe der Jahre eine Reihe von Mechanikerinnen und Mechanikern beschäftigt. Bessere und schlechtere. Nettere und weniger nette. Seit zweieinhalb Jahren war es Markus Stüssi. Und im letzten Sommer war Luís Zafar als Anlehrling dazugestoßen. Sie war soweit zufrieden mit der Situation.
    Sie machte sich an die Bestellungen, da rief Luís nach ihr. Es war ein unterdrücktes Lachen in seiner Stimme. Valerie ging hinauf. Aha, wieder eine Situation, in der die Chefin ran musste. Die beiden Männer, Markus und Luís, plus ein älterer Kunde standen in einem Kreis ratlos um zwei weinende kleine Mädchen herum. Die beiden trugen Strumpfhosen, aber weder Schuhe noch Hausschuhe. Ihre Kleidchen waren sicher nicht in der Globus-Kinderabteilung gekauft worden.
    »Sind da gekommen«, Luís deutete auf den Platz, in Richtung Zentralstrasse. »Haben Hand gehalten und weinen. Konnte sie nicht einfach so lassen. Sind klein.«
    Da hatte er sie halt mit hineingenommen. Na ja. Dass lange nicht alle Menschen, die das Leben in ein Fahrradgeschäft spült, irgendetwas mit Rädern zu tun haben oder zu tun haben wollen, wusste Valerie inzwischen aus langjähriger Erfahrung. Lorenz hatte ihr sogar mal vorgeschlagen, FahrGut in ›Strandgut‹ umzubenennen. Diese beiden kleinen Mädchen wollten sicher kein Kindervelo kaufen. Valerie und die Männer versuchten, mit ihnen zu sprechen. Aber
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