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Schrottreif

Schrottreif

Titel: Schrottreif
Autoren: Isabel Morf
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Weihnachten feiern und auf den Plätzen große Weihnachtsbäume stehen?«, hatte sie sich ein anderes Mal erkundigt.
    »Wir haben auch schöne Feste«, hatte Alexander erzählt. »Im Winter haben wir Chanukka, das Lichterfest, da zünden wir Kerzen an. Und Geschenke geben wir einander an Purim. Dann verkleiden wir uns.« Die Kinder kamen offenbar ganz selbstverständlich zurecht mit den beiden Welten, in denen sie lebten.
    Die meisten Kinder der jüdisch-orthodoxen Familien im Quartier hatten panische Angst vor Seppli, überhaupt vor Hunden. Valerie hatte nie herausfinden können, warum. Die kleinen Goldfarbs waren die Ersten, die sich dem gefährlichen Mysterium Seppli näherten. Der Pionier war nicht Sruli gewesen, der Älteste, sondern Alexander, der Zweite. Er hatte eines Tages Seppli gestreichelt, zwei Tage später wieder. Am dritten Tag war Aron, der Kleine, mitgekommen, der seinen großen Bruder erst ungläubig bewunderte; ihm dann kurz entschlossen nacheiferte und Seppli ins grau gelockte Fell fuhr. Von da an war der Bann gebrochen. Um ihren Mut für sie selbst und die Eltern zu verewigen, hatte Valerie von jedem der Goldfarb-Buben ein Foto mit Seppli machen müssen. Irgendwann war Adele aufgetaucht. Drittklässlerin. Zahnlücke, frecher Blick, ein etwas zu langes Kleidchen für eine Neunjährige, fand Valerie.
    »Ich war mit meinem großen Bruder schon mal bei Ihnen«, hatte sie gesagt und sich gründlich umgesehen. »Sie, was ist das für ein Werkzeug? Was machen Sie damit?« Valerie hatte erklärt. Irgendwann war die Kleine mit dem Wunsch herausgerückt, wie ihre älteren Brüder mit Seppli fotografiert zu werden.
    »Klar«, hatte Valerie zugestimmt, den faulen Hund aufgescheucht und von den beiden vor dem Laden ein Bild gemacht. Stolz war Adele mit der Aufnahme abgezogen.
    Adele trug immer Strumpfhosen und langärmlige Blusen, sogar im Sommer. Valerie hatte sie gefragt, ob ihr nicht zu heiß sei.
    Die Kleine hatte gleichgültig die Schultern gezuckt. »Bei uns ist es halt so, alle Mädchen sind so angezogen. Und wenn ich groß bin, verdecke ich mir die Haare wie meine Mutter. – Es ist wegen unserer Religion«, hatte sie hinzugefügt. »Aber manchmal«, hatte sie Valerie anvertraut, »wenn es gar zu warm ist, kremple ich ein wenig die Ärmel hoch. Aber nur bis hier.« Sie deutete auf die Mitte ihres Unterarms.
    Adele besah sich die Inseratvorlage. »Den Spruch finde ich lustig«, stellte sie fest, »aber die Zeichnung ist nicht gut genug. Sie müssen einen Sattel zeichnen, aus dem Stecknadeln herausschauen, und daneben einen, der weich ist, vielleicht könnten Sie ein richtiges Kissen daraufmalen.«
    Valerie versprach, sie werde schauen, was sich machen lasse, und Adele bot an, ihrem Bruder die Anzeige anzukündigen, damit er Platz in der Zeitung freihielt. Sruli, der älteste der Goldfarb-Söhne, akquirierte neuerdings als Lehrling die Inserate für die Zeitung der orthodoxen Juden, und Adele genoss es, Valerie zuliebe ihre Connections spielen zu lassen.
    Plötzlich fragte Adele: »Was sind Neonazis?«
    Valerie fühlte sich überrumpelt und ein wenig überfordert. Wusste das Mädchen, wer die Nazis gewesen waren? Wie gingen jüdische Eltern mit solchen Informationen um? Wurden zehnjährige Kinder über alles informiert oder wurden sie geschützt, bis sie älter waren?
    »Nicht wahr, die Neonazis mögen Juden nicht?«, fuhr Adele fort.
    »Das stimmt«, bestätigte Valerie.
    »Wissen Sie, warum?«
    Valerie überlegte einen Moment, weil sie das Kind nicht mit einer billigen Antwort abspeisen wollte.
    Aber Adele fragte schon weiter: »Gibt es in der Schweiz viele Neonazis?«
    »Nein«, schüttelte Valerie den Kopf, »es sind nur wenige.«
    »Kennen Sie selbst Neonazis?«
    »Nein, mit Neonazis mag ich nichts zu tun haben. Ich kenne niemanden, der so denkt.«
    Adele bedachte sie mit einem langen Blick.
    »Fragst du mich das aus einem bestimmten Grund, Adele?«, hakte Valerie nach. »Möchtest du mir etwas erzählen?«
    Die Kleine schüttelte den Kopf und stand auf. »Ich muss nach Hause, meine Mama wartet auf mich«, erklärte sie und stieg die Wendeltreppe hinauf. Sie blieb nochmals stehen: »Ich kenne einen Neonazi. Er mag mich nicht.« Dann war sie weg.
     
    *
     
    Eine Minute später stand Markus vor Valerie. Er wirkte beunruhigt. Der sportliche Typ, der sich Mountainbikes habe zeigen lassen, sei von einer Probefahrt nicht zurückgekehrt. Wann er denn losgefahren sei, wollte Valerie wissen. Vor einer
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