Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Schroedingers Schlafzimmer

Titel: Schroedingers Schlafzimmer
Autoren: Ulrich Woelk
Vom Netzwerk:
du dich hinlegst und sie werden stärker, dann mußt du sie ernst nehmen. – Komm, wir setzen uns ans Fenster.« Er stand auf und ging durch den Raum. Do stellte fest, wie schon manchmal in den vergangenen Tagen, daß die Situation und der Verband, der das Zentrum seines Gesichts so schmählich bloßlegte, sie dazu brachten, ihn für schwächer |287| zu halten, als er tatsächlich war. »Zu sterben«, fuhr er fort, als er wieder saß, »wäre in Ordnung, wenn es bedeuten würde, daß die Seele irgendwie durchlässig wird. Meine ist abgeschottet, und das ist schwer zu ertragen. Aber mit diesen Schmerzen in meinem Kopf wäre es nicht gegangen, das Sterben, meine ich, da konnte ich Bosseler nicht widersprechen. Also hat er den Kasten aufgemacht, und nun bist du fort. Ich habe schon versucht, dich zurückzurufen, vorgestern und gestern, aber es ist nichts zu machen, ich kann es nicht mehr. Das heißt nun Gesundheit: Ich bin wieder allein. Ich werde wieder meine MA O-Hemmer nehmen müssen.«
    Do reagierte gekränkt. »Ich bin nicht fort. Ich bin
hier
. Ich sitze neben dir. Ist dir das eigentlich klar?«
    »Das weiß ich«, sagte er. »Und ich danke dir.«
    Sie atmete vernehmlich aus. »Was erwartest du denn? Daß ich auf Knopfdruck erscheine? Ich bin kein pharmazeutisches Produkt. Ich bin keine Pille.«
    »Ich habe mich schlecht ausgedrückt.«
    »Du hast dich sehr deutlich ausgedrückt.«
    Er hob die Hand. »Schon gut. Du hast recht.«
    Do schüttelte den Kopf. »Jetzt gibst du wieder einfach nur nach.«
    Er sah sie ratlos an. »Worauf willst du denn hinaus?«
    Do sprang auf. Sich am Krankenbett zu streiten war furchtbar. Aber sie konnte nicht ihrerseits nachgeben – nicht schon wieder. Sich gegenseitig mit Defensivität zu unterbieten war das Schlimmste.
    »Du hast uns nie das Gefühl gegeben, daß du stark bist.«
    »Wem? Deiner Mutter und dir?«
    |288| »Herrje, Papa, du
willst
es nicht verstehen. Es geht darum   … es geht darum, daß wir uns
nehmen
müssen, was wir
wollen

    »Ich verstehe wirklich kein Wort von dem, was du sagst.«
    »Natürlich nicht. Weil du nie darüber nachgedacht hast. Du hast einfach deine Pillen genommen und fertig. Ich bin so veranlagt wie du, aber ich arbeite dagegen an. Ohne Pillen!«
    »Das ist deine Entscheidung.« Er schwieg.
    Tränen liefen ihr über die Wangen. »Mit dir kann man nicht reden. Das konnte man noch nie.«
    Er wandte ihr sein altes Gesicht zu, in dessen haarloser Maskenhaftigkeit seine Nase doppelt so groß aussah wie sonst. »Es ist eine Krankheit.«
    »Ja, ich weiß.«
    »Du brauchst nicht zu bleiben«, sagte er. »Das CT hat ergeben, daß sie praktisch das gesamte Tumorgewebe erwischt haben. Die Chemotherapie ist eine reine Vorsichtsmaßnahme. In ein paar Tagen kann ich hier raus und bin wieder ganz der Alte. Ich werde eine Glatze haben, das ist alles. Und auch das geht vorbei   …«
    Do hörte nicht mehr zu. Auseinandersetzungen wie diese waren für ihn ein unvermeidliches Vater-Tochter-Ritual, das er in bestimmten (wenngleich mit den Jahren länger werdenden) Abständen über sich ergehen lassen mußte wie einen heftigen Gewitterregen. Er hatte die Dinge auf eine medizinische Wurzel zurückgeführt, und damit war er zufrieden. Do würde ihn nicht ändern, und es wurde Zeit, daß sie das akzeptierte.
     
    |289| Am letzten Tag von Dos Aufenthalt kam ihre Mutter ins Krankenzimmer. »Ich habe frische Unterwäsche mitgebracht«, sagte sie zu Dos Vater. »Soll ich jemanden kommen lassen, der die Gelegenheit nutzt und deine Wohnung saubermacht? Manche Ecken starren vor Schmutz. Hier ist deine Post und die Tageszeitung. Wir sollten nicht zu spät fahren, Doris, wenn wir Pech haben, brauchen wir zwei Stunden bis zum Flughafen, man weiß nie, wie es läuft. Mit den Lastern wird es immer schlimmer.«
    »Ihr habt noch genug Zeit«, sagte Dos Vater.
    Ursel legte zwei Briefumschläge auf die ausgeklappte Tischplatte neben dem Bett und sagte: »Ich mag es nicht, wenn man unter Zeitdruck steht. Du bist
immer
zu knapp losgefahren. Wenn wir eine Einladung zum Abendessen hatten, sah ich immer schon alle vor der dampfenden Suppe sitzen und auf uns warten.«
    Er starrte reglos aus dem Fenster. »Ich bin mehr als eine halbe Million Kilometer durch diese Gegend gefahren. Ich kenne hier jede Ampel und jedes Vorfahrtsschild.«
    Ursel räumte die Wäsche in den Schrank und sagte zu Do: »Es war mir immer furchtbar unangenehm, zu spät zu kommen. Und wenn ich gesagt habe, drück auf
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher