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Schroedingers Schlafzimmer

Titel: Schroedingers Schlafzimmer
Autoren: Ulrich Woelk
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Trotzdem blieb sie bei ihrer Lüge und schickte den imitierten Hauch eines verstohlenen Kusses durch die Leitung. Als sie den Hörer zurück zum Kassentresen brachte, fiel ihr Blick auf einen schaukelnden Metallhasen im Schaufenster. Es war kurz vor Ostern. Angetrieben von einer hin- und herpendelnden Gußeisenkugel, schob der Hase unermüdlich eine Schubkarre voller buntbemalter Eier vor und zurück. Die Geschenkboutique hatte Do vor vier Jahren zusammen mit ihrer Freundin Ruth Weiß eröffnet. Die Gelegenheit war günstig gewesen, weil damals infolge der abstürzenden Börsenkurse die Ladenmieten ins Rutschen gerieten. Außerdem kannte sich Oliver mit Geschäftsräumen gut aus und wußte, worauf zu achten war. Sie nannten die Boutique
Schwarz & Weiß
.
    Licht und Dunkelheit. Sehen und nicht sehen. Es entsprach einem Gefühl von ihr. Als sie Oliver kennengelernt hatte, war sie fasziniert gewesen von seiner Lichtsucht. Er hatte sich schon Anfang der neunziger Jahre als Optiker selbständig gemacht. Sein Geschäft lag in einer Zeile alteingesessener Schuh-, Wäsche- und Papiergeschäfte, die damals kaum mehr gewesen waren als Überreste einer steinzeitlichen Ladenkultur, die in der Epoche von Einkaufszentren und Erlebnisshopping drohte unterzugehen. Er hatte frischen Marketingwind in den Straßenzug gebracht. Er war Künstler. Er zeichnete viel und manisch, |11| und seine Schaufensterdekorationen wiesen ihn als jungen Wilden aus: Er befestigte seine Brillengestelle rittlings auf grellfarbigen Neonröhren oder skizzierte auf einem langen Stück Rauhfasertapete mit wenigen breiten Filzstiftstrichen die Silhouette einer großen nackten Frau, setzte ihr durch zwei Löcher im Kopf eine Designer-Sonnenbrille auf und ließ sie selbstbewußt (oder verächtlich) auf den Gehsteig hinabsehen.
    Er selbst war nicht besonders groß, nur wenig über einssiebzig. Als Do ihm zum ersten Mal in seinem Laden gegenüberstand, inmitten seiner Brillenarmee, mußte sie an Napoleon denken. Ein Feldherr im Kampf gegen die Dunkelheit. Hornhautverkrümmungen, Astigmatismen, Altersweitsicht: Es gab eine Menge Fehlsichtigkeiten – wie sie im Laufe der Jahre erfuhr   –, gegen die er seine Gestellsoldaten in den Kampf schickte. Sein Blick war präzise beobachtend (er war ja Zeichner), und er wirkte sehr selbstsicher, fast ein wenig arrogant. Bei den Verkaufsgesprächen, die sie hatten – Do wollte eigentlich nur eine Sonnenbrille kaufen, aber sie ließ sich
viel
Zeit damit   –, verliebte sie sich in ihn. Es gefiel ihr, daß er diese Künstleraura hatte, aber noch etwas anderes spielte eine Rolle. Es forderte sie gewissermaßen heraus, ihn, den Ingenieur des Fernsinns, für bestimmte Vorzüge der Nahsinne zu begeistern. Was
diese
Dinge betraf, war er nämlich keineswegs ein Draufgänger, wie sie schnell herausfand. Im Innersten eher schüchtern, verbarg er sich hinter der Maske des avantgardistischen Optikers. Ihn, den Herrn des Sehens, zu verführen hatte einen sehr romantischen Reiz gehabt. Denn damals dachte Do (und sie dachte es heute noch), |12| daß zu lieben zuinnerst bedeutete, die Augen zu schließen.
    Am Abend nach Olivers Anruf bemühte Do sich, seinen Ausflug ins Reich des Telefonsexes als Kommunikationskapriole zu sehen, die den heißhungrigen Atem ihrer frühen Liebesjahre verströmte. Sie ging noch einmal ins Kinderzimmer, um sich zu vergewissern, daß Jenny und Jonas schliefen. Dann wandte sie sich zum Schlafzimmer. Auf dem Weg gaben die alten gewachsten Fichtenbohlen im Flur unter ihren Fußsohlen warm und samten nach und knarrten vertraut. Die Schlafzimmertür wurde durch eine Straßenlaterne schimmernd beleuchtet.
    Als Do die Tür öffnete, fiel ein blasser Lichtkeil in den Raum, der sich zum Bett hin weitete. Kopfkissen und Decken wurden sichtbar, noch zerwühlt vom morgendlichen Aufstehen. In dem schwachen indirekten Licht sahen sie menschenähnlich und gespenstisch aus, und obwohl Do nicht an Übersinnliches glaubte (oder nur maßvoll, sie wünschte sich etwas, wenn sie eine Wimper fand, oder sah in Träumen ernstzunehmende Botschaften), war sie froh, das Licht einschalten zu können. Mit ihrem Eintreten zwang sie die Dinge aus dem Reich spiritistischer Möglichkeiten zurück in die diesseitige Ordnung ihrer Ehepaarwirklichkeit. Im besonderen stand der Umsetzung jener nachmittäglichen, telefonischen und für ein Ehepaar nicht eben ehrgeizigen Verabredung zum Sex jetzt nichts mehr im Weg.
    Do ging zum Fenster und suchte
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