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Schroders Schweigen

Schroders Schweigen

Titel: Schroders Schweigen
Autoren: Amity Gaige
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ich nie daran dachte, dich zu verlassen. Kein einziges Mal. Aber es gab eine Kluft zwischen meiner Wahrnehmung und deiner, wie schlimm es um uns stand, und in diese Kluft fiel unser Leben.
    »Meinst du?«, erwiderte ich.

DIE VERLETZLICHEN JAHRE
    Vielleicht wissen wir heute gar nicht mehr, dass bis Mitte des neunzehnten Jahrhunderts Kinder und ihre Mütter als Eigentum des Mannes galten. Wenn das Eheleben zu jener Narretei führte, die wir heute als Scheidung bezeichnen, landete das Kind prompt in den Armen des Vaters und die schluchzende Mutter wurde auf die Straße gesetzt, und zwar ohne rechtliche Handhabe. Wir alle haben Anna Karenina gelesen oder uns die Handlung erzählen lassen, nicht wahr? Aber es dauerte nicht lange, verstehst du, da schwang das Sorgerechtspendel in die andere Richtung. Bereits gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts wurde in Scheidungsfällen im Rahmen der Tender-Years-Doktrin die Mutter vorgezogen. Diese Doktrin besagte, dass kleinere Kinder – das heißt, jünger als acht – von ihren Müttern aufgezogen werden sollen. Folglich wirkte ein Mann, der das Sorgerecht für sein Kind verlangte, nicht nur fehlgeleitet, sondern auch irgendwie abartig. Doch die Sorgerechtsfrage kam nicht oft auf, da Scheidungen an sich relativ selten waren.
    Tja, die Zeit verging, und aus Gründen, auf die ich hier nicht weiter eingehen will, verlor die Scheidung ihren Schrecken. Irgendwo in den Tiefen der siebziger und achtziger Jahre begannen einige Leute, unterdrückte Männer und Frauen gleichermaßen, die Scheidung als Akt der Machtergreifung anzusehen. Die Ehe wurde zum Problem und die Scheidung zur Lösung. Bald wurde sie zum Trend. Scheidungen wurden sehr viel einfacher. Man bekam sie praktisch nachgeworfen. Man konnte sich überall scheiden lassen – auf dem Schiff, im Zug, in der Einkaufspassage, einmal hin, einmal her.
    Entsprechend – ich bin gleich auch schon fertig – brachten diese Jahrzehnte in Sachen Scheidungsrecht einige neue und aufregende Ideen mit sich. So etwa die verschuldensunabhängige Scheidung, bei der eine Ehe unabhängig von den Betroffenen irgendwie von selbst nicht funktioniert haben will. Und obwohl der Gedanke einer schuldlosen Scheidung einen Widerspruch in sich darstellt und beiderseits verschuldete Scheidung vielleicht der bessere Begriff gewesen wäre, machte sie als rechtliche Kategorie Schule. Das Ergebnis der verschuldensunabhängigen Scheidung, und worauf ich hinauswill, ist, dass sie in Sorgerechtsfragen weder die Mutter noch den Vater bevorzugt . Als Eltern dann noch ermutigt wurden, ihre Sorgerechtsstreitigkeiten vor der Anhörung über die weniger lärmschlagende Mediation beizulegen, verlor die Scheidung die ihr innewohnende Theatralik. Vorbei waren die meineidigen Zeiten, als ein Familienmitglied gegen das andere aussagte. Und so wurde (in zwölf Staaten) die gesetzliche Bevorzugung des gemeinsamen Sorgerechts ermöglicht.
    Wir suchten uns als Mediator einen langhaarigen kleinen Folkmusikfreak aus, seines Zeichens Sozialwissenschaftler und Cornell-Absolvent, der selbst bei kaltem Wetter Shorts und Jesuslatschen trug. Du saßt mir gegenüber an seinem Tisch, den Blick gesenkt, und stelltest deine Schüchternheit zur Schau, die einsame Klassenbeste unter deinem selbstgerechten Äußeren, während du dein Bedürfnis nach Begrabung unseres Ehebundes beharrlich verteidigtest.
    Schneide ich mir damit ins eigene Fleisch, wenn ich sage, dass ich mich darauf freute, dich bei der Scheidungsmediation zu sehen? Ich rasierte mich, parfümierte mich, suchte mir Hemden aus, die du mir mal gekauft hattest. Der Mediator arbeitete in einem kleinen Haus unweit der Schnellstraße. Im Hinterhof hatte er einen Lustgarten voller herbstlicher Dahlien angelegt, und auf einer Schieferterrasse neigten sich zwei Stühle hoffnungsvoll einander zu. Unsere Trennung war noch sehr frisch. Ich hatte noch immer nicht begriffen, warum wir uns trennten, und du ziemlich sicher auch nicht. Seit einigen Wochen lebten wir nicht mehr zusammen, und diese räumliche Getrenntheit verlieh unseren Begegnungen etwas von der Zeit, als wir uns den Hof machten. Du fehltest mir, verstehst du das nicht? Man hatte zwar vorläufig dir das Sorgerecht für Meadow zugesprochen, aber ich durfte sie von dir aus sehen, wann immer ich oder sie Lust dazu hatte. Es fühlte sich an, als wären wir noch immer ein Team. Im dicken schwarzen Chevy Tahoe deines Vaters kam sie vor meinem neuen Haus in North Albany vorgefahren und
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