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Schoenhauser Allee

Titel: Schoenhauser Allee
Autoren: Wladimir Kaminer
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Hollywoodfilm los: Rote Kabrios mit stolzen Strafzetteln an den Windschutzscheiben rollen aus ihren geheimen Verstecken an, halb angezogene langbeinige Models zeigen dem Publikum die neuesten Trends der Saison. Die jungen Skateboarder durchbohren in bunten T-Shirts die Menschenmassen. Freundliche Außendienstler verteilen vor den »Schönhauser Arcaden« lustige Luftballons, frische Zeitungen und manchmal sogar Zigaretten – alles umsonst. Das Minimumprogramm fürs Paradies, das mein Freund Juri einmal entwickelt hat – jedem Kind ein Eis, jeder Frau eine Blume, jedem Mann ein Bier –, scheint hier endlich zu funktionieren.
    Doch diese feierliche Stimmung ist nicht von Dauer. Kaum ziehen Wolken auf, verändert sich die Allee. Die roten Kabrios verschwinden von der Bildfläche, die schönen Models lösen sich in Luft auf, die Außendienstler und die Skateboardfahrer flüchten.
    Blitzschnell verwandelt sich die ausgelassene Menschenmenge auf der Schönhauser Allee in einen Haufen frustrierter Langzeitarbeitsloser mit »Plus«-Tüten in der Hand. In nassen Jeans hocken die Obdachlosen unter den Markisen der Läden. Die Straßenkids hängen an einer überfüllten Mülltonne herum. Sie haben nicht genug Geld fürs Kino und wissen nicht, wohin mit sich. Sie wirken niedergeschlagen. Der Regen wischt die bunten Farben von den Fassaden, die Häuser werden wieder grau, die Wände faltig und alt. Die Straße leert sich, selbst die Autos fahren auf einmal schneller. Nur der gelbe Lieferwagen mit der Aufschrift »Kurier Express«, der seit über einem Jahr an der Ecke Schönhauser Allee und Kuglerstraße steht, rührt sich auch weiterhin nicht von der Stelle.
    »Was denkst du, wo all die roten Kabrios von der Schönhauser Allee sind, wenn es hier kalt und regnerisch wird?«, fragte ich einmal meinen Nachbarn, Peter, der als Taxifahrer sein Geld verdient und sich im Verkehr gut auskennt.
    »Keine Ahnung. Woher soll ich das wissen?«, murmelte er und ging weiter.

Unsere Nachbarn
    Einmal verschlug mich das Schicksal nach Alt-Moabit. Ich hatte dort eine Lesung in einer Buchhandlung. Während der Lesung hörte man von draußen Polizeisirenen, Schreie und anderen Lärm, den man sonst eigentlich nur von Hollywoodfilmen kennt. Später erzählte mir der Buchhändler, während meiner Lesung sei der »Penny Markt« in dem Haus nebenan ausgeraubt worden und ein Fluchtwagen habe außerdem das Gebäude des Amtsgerichtes gerammt. »Das ist typisch für unsere Gegend«, meinte er. Wir standen draußen vor dem Geschäft und rauchten. Ich unterhielt mich mit einigen Gästen, die etwas zu spät zu der Lesung gekommen waren und deswegen nicht mehr hineingedurft hatten, weil die Polizei die Straße abgesperrt hatte. Nicht wegen der »Penny Markt«-Räuber, sondern weil in dem Schulhof der Realschule zwei Häuser weiter ein Schüler einen anderen abknallte. Ich war von der Kriminalität in Alt-Moabit schwer beeindruckt.
    »Das ist ja richtig Wilder Westen hier«, meinte ich. »Bei uns im Prenzlauer Berg ist nichts dergleichen zu sehen. Da haut höchstens einer aus Liebeskummer mit dem Baseballschläger ein paar Schaufenster kaputt. Und in der Presse wird dabei ständig behauptet, die Kriminalität schleicht aus dem Osten heran.«
    »Kommt darauf an«, meinten die Alt-Moabiter zu mir. »Drogenmafia und Raubdelikte sind eher eine westdeutsche Angelegenheit. Dafür kommen aber die Kinderficker alle aus dem Osten.« Draußen knallte es schon wieder.
    Nach dem drittem Anlauf gelang es mir ein Taxi zu stoppen und nach Hause zu fahren. Dort wartete schon Besuch. Unsere Nachbarn Carsten und Susanne waren gerade dabei, neue Geschichten aus ihrem Arbeitsleben zu erzählen. Die beiden haben so interessante Jobs, dass ich nicht müde werde, ihre Geschichten anzuhören. Susanne ist Krankenschwester in einer Reha-Klinik und erzählt uns immer wieder von ihren Nachtschichten. Der kleine blinde Zwerg hatte letztens eine neue Niere bekommen von einem Mann, der 200 Kilo wog. Jetzt ist der Zwerg, der sein ganzes Leben lang im Krankenhaus verbracht hat, unglaublich aktiv geworden. Er hat sich richtig in seine neue Niere verliebt; er will alles über sie wissen und terrorisiert das Personal mit Fragen, wie sie denn wohl aussehe. Alle haben seine Niere gesehen, nur er nicht – weil blind. Manchmal redet er auch mit seiner Niere und nennt sie jedes Mal bei einem neuen Namen. Der Zwerg gehört zu Susannes Lieblingspatienten. Sie muss aufpassen, dass er auch weiter so
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