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Schoenhauser Allee

Titel: Schoenhauser Allee
Autoren: Wladimir Kaminer
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Seitenflügel, deren Küchenfenster unserem direkt gegenüber liegt, schreit jeden Abend auf Italienisch. Ich toleriere inzwischen ihr merkwürdig lautes Verhalten und kann ohne nicht mehr einschlafen. Anfangs dachte ich, es ginge ihr nicht gut, wenn ich sie so schreien hörte. Jetzt weiß ich aber, sie arbeitet in der Oper, es geht ihr gut – sie übt.
    Doch die wahren Lautkünstler sind für mich die Straßenmusiker. Es gibt sie in jeder Stadt der Welt. In Berlin, Moskau und Paris beglücken sie im Stehen, Sitzen oder Liegen das herumlaufende Volk mit ihrer Musik. Unter den Straßenmusikanten gibt es verschiedene Gattungen. Besonders faszinieren mich die so genannten »Kratzer«, das sind Musiker, die nur eine einzige Melodie können, dafür aber in- und auswendig. Diese seltene Gattung sieht man heutzutage nicht mehr oft, die Straßen werden zunehmend von Absolventen des Konservatoriums und arbeitslosen Orchestermusikern erobert. Umso mehr weiß ich die Kratzer zu schätzen. In Moskau war es ein kahlköpfiger alter Mann, der jede Woche vor dem Eingang der einzigen öffentlichen Toilette in der Nähe des Roten Platzes stand und auf einer vibrierenden Handsäge den »Donauwalzer« spielte. Ganze Touristengruppen blieben ergriffen stehen.
    In Berlin ist es der verlorene Anden-Indianerstamm vom Alexanderplatz mit dem Hit »Guantanamera«, den sie dort vor dem Kaufhof seit Jahren einüben. Die Indianer haben im Laufe der Zeit eine seltene Perfektion erreicht, sie können das Lied auf allen Instrumenten, mit Händen und Füßen spielen, sie können es pfeifen, furzen, rülpsen und klatschen, immer und immer wieder. Der Alexanderplatz ist inzwischen ohne diesen verlorenen Stamm undenkbar. Sollten die Indianer irgendwann einmal weiterziehen, dann wird auch der »Kaufhof« schließen und weiterziehen müssen.
    Zu den Anhängern der »One-Song-Music« gehört auch der afrodeutsche Schlagzeuger vor dem Zoo, den dort alle »Kraftwerk« nennen, wahrscheinlich wegen der auffallenden Kraft seines Intellektes. Er veranstaltet regelmäßig Konzerte vor dem Erotikmuseum. Dann sitzt »Kraftwerk« mit geschlossenen Augen auf einem Hocker und haut voller Energie auf zahlreiche leere und halb leere Büchsen und Flaschen ein. Doch anders als die anderen verrät er seine Lebensmelodie nicht, er hält sie geheim. Mit etwas Anstrengung kann jeder seine eigene Lieblingsmelodie in dieser Musik erkennen. Letztens, als ich diesen Musiker wieder bei der Arbeit sah, schien mir, als spielte er »Die Apfelblüte«, unser Armeelied. Doch mein Freund Juri behauptete, er spiele »Satisfaction«, es wäre schon immer »Satisfaction« gewesen, ich hätte es nur einfach nicht erkannt.

Altbauten und Neubauten
    Seit zehn Jahren leben meine Frau und ich in Berlin, und sechsmal sind wir umgezogen. Jedes neue Haus ist älter als das vorige. Hier in Berlin haben wir die Altbauten entdeckt und sind mit der Zeit richtige Altbauliebhaber geworden. Meine Eltern können diese Vorliebe für alte Häuser nicht nachvollziehen. Wenn mein Vater bei mir vorbeischaut und die Löcher unter den Fensterbrettern, die von Holzkäfern zerfressenen Dielen und den abgefallenen Putz an der Fassade sieht, werden seine Augen ganz rund. »Warum tut ihr euch das an? Und noch dazu zu einem solchen Preis? Ihr könntet doch in Karow-Nord eine supertolle Neubauwohnung viel billiger bekommen!«, sagt er immer wieder zu uns.
    Ich kann es ihm nicht erklären. Die Neubauten schrecken uns nicht ab. Ich habe meine Jugendjahre in einem Neubau am Rande Moskaus verbracht, meine Frau ebenfalls. Neubauten waren in Russland eine große sozialistische Errungenschaft, ein Versuch, den Traum von einem glücklichen und sorglosen Leben für jeden in die Realität umzusetzen. »Jedem Arbeiter eine eigene Wohnung mit Warmwasseranschluss«, lautete die Parole der Baupolitik. Majakowski und andere berühmte sowjetische Dichter schrieben daraufhin ganze Poeme über den Wohnungsbau. Ein weiterer wichtiger Grund für dieses Bauprogramm war die soziale Gerechtigkeit. Man wollte gleiche Bedingungen für alle schaffen und dadurch dem Neid ein für alle Mal ein Ende machen. Alle Häuser waren gleich gebaut, die Wohnungen gleich geschnitten. Wenn ich Freunde besuchte, musste ich nie fragen, wo die Toilette war. Meine Eltern haben ihr ganzes Arbeitsleben in einer solchen Wohnung verbracht: Zwei Zimmer, Küche, Bad, 27 Quadratmeter Gesamtfläche, 1,90 Meter hoch. Es war ganz sicher kein Palast, dafür aber umsonst,
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