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Schoenhauser Allee

Titel: Schoenhauser Allee
Autoren: Wladimir Kaminer
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»und ich wusste einfach nicht, wohin mit dem ganzen Zeug. Da dachte ich, was soll's, ich nehme es einfach nach Deutschland mit.«

Kneipen auf der Schönhauser Allee
    Die Feiertage hatten wir gut überstanden, und schon kurz nach Neujahr konnten wir weiterleben, -trinken und -rauchen. Mein Freund Juri und ich saßen im »Attila-Imbiss« in der Paul-Robeson-Straße, tranken Tee und blätterten alte Zeitungen durch. Alles wird immer besser, behaupteten die Überschriften, der Dollar fällt, der Euro steigt, die Arbeitslosigkeit geht runter, und das Nettoeinkommen der Berliner Haushalte hat die stolze 4500-DM-Grenze überschritten. Die Wirtschaft blüht also. Überall in der Stadt werden täglich neue Geschäfte eröffnet: Zeitungskioske, Lebensmittelläden, Kneipen. Nur nicht bei uns.
    Trotz des wirtschaftlichen Aufschwungs ist der 4500-DM-Haushalt immer noch ein seltener Vogel bei uns auf der Schönhauser Allee. Deswegen sitzen wir ja auch bei »Attila«. Die Hühner-Döner von ihm schmecken ziemlich widerlich. Man fragt sich ständig, ob diese Hühner nicht schon mehrmals von anderen zerkaut worden sind, bevor sie als Döner endeten. Darauf machen wir auch den Besitzer des Ladens, namens »Attila« immer wieder gerne aufmerksam. Er lachte jedes Mal: »Ja«, sagt er dann, »ich weiß, es gibt da ein Döner-Problem. Aber als altes PKK-Mitglied bin ich gezwungen, dieses Hühnerfleisch bei meinen Parteigenossen einzukaufen. Es schmeckt vielleicht nicht besonders gut, aber die Parteikasse ist nun mal von diesem Hühnerfleisch abhängig. Und ohne Parteikasse gibt es keine Revolution. Aber das nächste Mal«, so verspricht er uns immer wieder grinsend, »grille ich ein ganzes Ferkel für euch, Kameraden!«
    Juri und ich wollten schon mehrmals unseren Stammimbiss wechseln, aber so einfach ist es nicht. Die Schönhauser Allee ist kein Paradies für Kneipengänger. Der »Burger-King« an der Ecke Paul-Robeson-Straße ist BSE-verseucht. »Pezo del Tore« gegenüber ist eigentlich keine Kneipe, sondern eine vegetarische Sekte. Dort werden die gebratenen Möhrchen gleich kiloweise gegessen. Und der thailändische Imbiss in der Nähe ist als Stammkneipe fest in den Händen der schwulen Bauarbeiter des Bezirks. Diejenigen, die in den kleinen Imbiss nicht reinpassen, gehen rüber in die »Bärenhöhle«. Das »Nirwana« ist eine langweilige Stripteasebar, wo sich einige Pankower Hausfrauen ausziehen und nackt auf dem Tresen tanzen. Erzählt man sich jedenfalls.
    Uns bleibt nur »Attila«, der König der Hühner. Sein Laden hat aber auch einige Vorteile: Wir sind dort fast die einzigen Kunden und genießen deswegen die gesamte Aufmerksamkeit des Besitzers. Außerdem wissen wir ja inzwischen, dass wir dort nicht einfach so abhängen, sondern für eine gute Sache rumsitzen. Es geht um die Revolution und um die allgemeine Verbesserung der Lage. Die wird zur Folge haben, dass auch zu uns irgendwann mal die 4500-DM-Haushalte aus der Zeitung ziehen, und dann wird alles anders.

Wir und andere Musikanten
    Jeder Mensch ist Musiker, jeder Tag unseres Lebens – ein Konzert. Die Karten werden umsonst verteilt, der Eintritt ist frei. Vom Geburtshaus bis zum Friedhof wird man von der Musik begleitet, Tag und Nacht, bei der Arbeit und zu Hause. Selbst wenn man den kassenärztlichen Notdienst anruft, muss man sich zuerst eine halbe Stunde lang Mozarts »Kleine Nachtmusik« anhören –»daaa, da, daaa, da, da, da, da, da, daaa... bitte legen Sie nicht auf... daaa, da, daaa... Sie werden gleich verbunden...«
    Auch meine Familie ist eine ganz normale Kelly Family: alles Musikanten, ohne Ausnahme. Meine Frau hat zehn Jahre lang Klavier studiert, ich spiele oft abends in der Küche Gitarre. Unser Sohn Sebastian hat zu seinem ersten Geburtstag von einem netten Nachbarn eine Trommel geschenkt gekommen, und unsere Tochter Nicole besitzt eine Blockflöte, die sie im Kindergarten bei einer Schlacht erobert hat. Aber viel lieber trommelt sie auf den Kopf ihres Bruders, wenn der ihre Flöte unserer Katze Martha in den Hintern zu schieben versucht. Die Katze spielt auch gern Musik, indem sie auf meiner Gitarre rumspringt.
    Doch wir sind nur Hobbymusiker, deswegen herrscht bei uns in der Wohnung nach 23.00 Uhr absolute Stille. Dann kann man nur noch die Nachbarn hören, wie sie sich mit ihrer Musik abquälen. Der Junge aus dem dritten Stock versucht seit einem halben Jahr auf seinem Saxofon »El Condor Pasa« zu intonieren. Die dicke Dame aus dem
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