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Schöne Khadija

Schöne Khadija

Titel: Schöne Khadija
Autoren: Gillian Cross , Tanja Ohlsen
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Kein sauberer, schwerer Regen wie der Gu, sondern ein gleichmäßiges, deprimierendes Nieseln. Ich wusste nicht, wie davon irgendetwas wachsen sollte. Aber überall, wo ich hinsah, war der Boden sowieso mit Beton bedeckt.
    Ich fühlte mich so hart und kalt wie dieser Betonboden. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn ich mich anders verhalten hätte. Wenn ich mit klopfendem Herzen und schuldbewussten Blicken zur Passkontrolle gegangen wäre, hätten mich die Behörden vielleicht nicht nach England gelassen und mich wieder nach Hause geschickt. Aber ich war innerlich starr und still. Daher warfen sie nur einen Blick auf mein Gesicht und auf meinen Pass und ließen mich ins Land.
    Im Zug saßen Menschen aus aller Welt – und alle achteten sorgfältig darauf, einander nicht anzusehen. Im Bus, den wir anschließend nahmen, war es ebenso. War die ganze Stadt so? Tausende von Menschen, die so taten, als existierten die anderen nicht?
    Wir fuhren durch Straßen mit großen, graugelben Gebäuden und die ganze Zeit über fiel dieser nutzlose Regen. Als ich zum Himmel hinaufblickte, konnte ich keine Spur von Sonne entdecken. War sie hier immer unsichtbar?
    Ich hatte geglaubt, dass der Mann mich zum Haus meiner neuen Familie bringen würde. Ich hatte geglaubt, er würde mich Abdi und seinen Schwestern und der Frau vorstellen, die meine Mutter darstellen sollte. Aber es geschah etwas völlig anderes.
    Als wir aus dem Bus stiegen, nahm er ein paar Münzen aus der Hosentasche und gab sie mir. »Weißt du, wie ein Telefon funktioniert?«, fragte er.
    Ich hob den Kopf. »Natürlich!«
    »Siehst du das Telefon dort?« Er deutete über die Straße. »Steck das Geld in den Schlitz und ruf die Nummer an, die ich dir gebe. Dann bleibst du in der Telefonzelle. Der, der das Gespräch annimmt, kommt und holt dich ab.«
    Ich war viel zu erstaunt, um etwas anderes tun zu können, als ihn anzustarren.
    »Steh hier nicht rum!«, verlangte er ungeduldig. »Die Leute werden sonst auf dich aufmerksam. Geh!« Er drückte mir eine kleine weiße Karte in die Hand und gab mir einen Stoß.
    Langsam nahm ich meine Tasche und ging die Straße entlang zu der Telefonzelle. Auf halbem Weg sah ich über die Schulter zurück. Der Mann war bereits verschwunden. Die Huckepackreise war vorbei und ich stand in dieser fremden Straße auf eigenen Füßen.
    Das Telefon war anders als die, die ich bisher benutzt hatte, aber ich verstand schnell, wie es funktionierte. Ich steckte das Geld in den Schlitz, drückte sehr sorgfältig die Ziffern und überprüfte die Nummer dabei immer wieder. Wenn ich beim ersten Mal einen Fehler machte, hatte ich kein Geld mehr für einen zweiten Versuch.
    Es klingelte nur zweimal, bevor abgenommen wurde. »Hallo?«, sagte eine Jungenstimme. Er sprach Somali, aber mit einem sehr merkwürdigen Akzent. »Bist du in der Telefonzelle?«
    »Ja«, antwortete ich. »Aber ich weiß nicht, wo …«
    »Warte einfach«, sagte er. »Ich komme.« Damit legte er auf.
    Ich blieb mit dem Hörer in der Hand stehen, sah die Straße entlang und fragte mich, woran ich den Jungen erkennen sollte. Aber darüber hätte ich mir keine Sorgen zu machen brauchen, denn das war ganz leicht. Ich erkannte ihn, sobald er um die Ecke kam. Ein großer somalischer Junge, der direkt auf die Telefonzelle zukam.
    Er machte die Tür auf und sah mich an. »Ich bin Abdi«, sagte er. Als ich zögerte, nannte er noch einmal seinen Namen, diesmal vollständig. »Ich bin Abdirahman Ahmed Mussa.«
    Er war viel älter als Mahmoud und auch sehr groß, aber er war vielmehr – Junge. Da wusste ich, wie weit ich wirklich gereist war. Ich war weit weg von Somalia und weit weg von meinem eigentlichen Ich, an einem Ort, wo die Menschen anders waren. Und ich musste lernen, hier zu leben.
    Ich hob den Kopf, sah Abdi in die Augen und erwiderte: »Und ich bin Khadija Ahmed Mussa.«

Damals kannte ich Abdi und Khadija noch nicht. Und Somalia war nur ein Name auf einer Liste, die ich mein halbes Leben lang immer wieder runtergebetet hatte: Mein Vater ist Kriegsfotograf in Darfur und Afghanistan und Ruanda und Somalia …
    Zu dieser Aufzählung gehörten natürlich auch Bilder, denn das ist es schließlich, was ein Fotograf produziert, aber das waren keine Bilder, die man kleinen Kindern zeigt. Und als ich alt genug war, sie zu sehen, gehörten Dads Reisen bereits der Vergangenheit an und die Orte verschwammen in meinem Kopf.
    Es muss fünf oder sechs Monate nach Khadijas Ankunft in
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