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Schöne Khadija

Schöne Khadija

Titel: Schöne Khadija
Autoren: Gillian Cross , Tanja Ohlsen
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sagte ich. »Es muss so hart gewesen sein für Abdi, als er die Maske herunterzog …«
    »Er hätte mit seinem Vater gehen können«, sagte Khadija leise. »Hast du schon einmal daran gedacht? Er hätte für immer bei ihm in Somalia bleiben können. Aber er hat es nicht getan.«
    Er weiß, wo er hingehört, dachte ich und einen Moment lang hätte ich ihn beinahe beneidet.
     
    Es regnete wieder, fast den ganzen nächsten Tag lang, aber irgendwie schafften wir es, die Sachen einzupacken und alle Leute zu bezahlen, die vor Ort angestellt worden waren, außer den Sicherheitsleuten. Als der Regen aufgehört hatte, war es im halb leeren Dorf ruhig.
    Gegen Mittag brachen Khadija und Mahmoud in einem Jeep mitDörflern zu dem Lager auf, in dem ihre Eltern lebten. Sie wollte sie unbedingt noch besuchen, bevor sie wieder zurückfliegen musste.
    Damit blieben nur Abdi und ich übrig, um das Dorf aufzuräumen. Fast den ganzen Tag lang arbeiteten wir Seite an Seite, aber wir sprachen kaum miteinander – bis wir schließlich nichts mehr zu tun hatten.
    Abdi hievte die letzte Kiste auf den letzten Lastwagen und fragte mich dann, ohne sich umzudrehen: »Ist dein Vater ein richtiger Fotograf? So wie Tony Morales?«
    »Er ist viel besser als Tony Morales!«, erklärte ich hitzig. »Warum?«
    Abdi zuckte mit den Achseln und drehte sich um, als ob es ihm eigentlich egal wäre, doch die Vorstellung misslang ihm gründlich. »Er hat gesagt, er würde es mir beibringen.«
    »Du willst Fotograf werden?«, fragte ich. »Warum?«
    »Damit ich die Leute dazu bringen kann, die Dinge mit meinen Augen zu sehen.« Abdi hob stolz den Kopf. »Jeder wird sich an die Fotos erinnern, die Tony Morales geschossen hat, nicht wahr? Somalis mit Gewehren in der Wüste. Aber sie erzählen nicht die ganze Geschichte. Sie sind nicht die Wahrheit . Wenn ich eine Kamera hätte …«
    Sein Gesicht leuchtete plötzlich. Fast wie Sandys, wenn sie sich in etwas hineinsteigerte. Ich fragte mich plötzlich, ob mein Vater früher auch so gewesen war, bevor er es aufgegeben hatte, Fotos zu machen, die ihm wirklich etwas bedeuteten.
     
    Am Abend machte ich mit Sandy und Dad einen Spaziergang. Sie gingen nebeneinander und betrachteten die Sterne und ich lief ein wenig verloren hinter ihnen her. Dann legte mein Vater einen Arm um Sandys Schultern und zog sie an sich, um ihr die Sternzeichen zu zeigen.
    »Ihr zwei seid verrückt«, stellte ich fest. »Warum lasst ihr den ganzen Mist mit der Trennung nicht einfach? Ich komme mir vor wie das fünfte Rad am Wagen.«
    Eigentlich sollte es ein Scherz sein, aber plötzlich versagte mir die Stimme und es klang gar nicht mehr so lustig. Sandy entzog sich Dads Arm und wandte sich zu mir.
    »So ist es aber nicht, Freya, ganz bestimmt nicht.«
    »Das stimmt«, sagte Dad sehr ernst. Ich wusste, dass er sich daran erinnerte, was ich mitangehört hatte: Glaubst du wirklich, ich würde Freya wählen anstatt dich? Einen schrecklichen Augenblick lang dachte ich schon, er wolle sich entschuldigen.
    Doch dafür ist er zu klug. Stattdessen fasste er mich am Handgelenk und zog mich zu ihnen.
    »Lasst mich euch eine Geschichte erzählen«, sagte er. Er schwieg kurz, bis wir alle die Stille hören konnten, und begann dann ganz leise:
    »Es ist eine alte Geschichte aus Somalia und sie geht folgendermaßen: Es war einmal ein Mann, der hatte drei Frauen. Sie waren alle stark und schön – aber sehr, sehr eifersüchtig. Jeden Tag stritten sie darüber, wer seine Lieblingsfrau war, und ständig fragten sie ihn: Welche von uns liebst du am meisten? «
    Mir krampfte sich das Herz zusammen. Am liebsten hätte ich ihn gebeten, aufzuhören, aber ich konnte nicht sprechen.
    »Der Mann versuchte, die Fragen zu ignorieren«, fuhr Dad fort, »aber seine Frauen wurden immer beharrlicher  – und immer unglücklicher. Schließlich rief er sie alle zusammen und sagte: ›Nun gut, ich werde tun, was ihr verlangt. Aber zuerst müsst ihr eure Augen schließen.‹«
    Dad hörte auf zu reden und schloss langsam und sorgfältig die Augen. Sandy sah ihn kurz stirnrunzelnd an, dann schloss sie ebenfalls die Augen.
    Sandy und Dad. Dad und Sandy. Ich sah sie beide an und dachte mir: Das muss ich nicht tun. Doch dann tat ich es ihnen gleich und schloss die Augen.
    »Als alle Frauen die Augen geschlossen hatten«, erzählte Dad leise weiter, »sagte der Mann: ›Jetzt werde ich die berühren, die ich am meisten liebe.‹ Und dann streckte er die Hand aus …«
    Für
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